© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Luther und Deutschland
Der deutscheste Mann
Karlheinz Weißmann

Heinrich Heine hat von Luther gesagt, daß er nicht nur „der größte, sondern der deutscheste Mann unserer Geschichte“ gewesen sei. Er stand mit dieser Wahrnehmung nicht allein, ganz im Gegenteil. Seit dem Wiedererwachen des Nationalbewußtseins galt Luther als zentrale Gestalt der deutschen Geschichte und als Verkörperung typisch deutscher Eigenschaften in ihrem spannungsreichen Verhältnis zueinander: Melancholie und Tiefsinn, Eigenwille und Pflichtbewußtsein, Freiheitsliebe und Konservatismus.

Melancholie, die grundlose Traurigkeit, hat Luther immer als jene Versuchung Satans betrachtet, der er besonders ausgesetzt war. Er wußte, daß es in ihm eine Neigung zur „Trübsal“ gab. Das Wort spielte bei seiner Bibelübersetzung eine wichtige Rolle und stand bildhaft für jene Verstimmung, in der nichts mehr „klar“ ist. Luther glaubte, daß eine wesentliche Ursache für die Melancholie in der Einsamkeit liege. Wenn er sie kommen spürte, ging er ganz bewußt unter Menschen, um mit ihnen zu reden. Aber auch die Lektüre oder die Musik boten Abhilfe.

Zwar kam das Lob auf „Wein, Weib und Gesang“ entgegen verbreiteter Auffassung nicht von ihm, aber in der Sache stimmte er zu, daß die guten Gaben Gottes ein wichtiges Mittel gegen die Melancholie seien. Die Schöpfung biete alles an, was unser Gemüt brauche, um froh zu werden. Daher rührte Luthers Liebe zur Natur, die etwa in der Freude über seinen Garten zum Ausdruck kam, die ihn aber auch sagen ließ: „Wir schauen jetzt in die Kreaturen tiefer hinein als früher unter dem Papsttum.“

Das erklärt aber auch den innerlichen Zug seiner Frömmigkeit. Bezeichnend ist, daß zwar der Entschluß, ins Kloster zu gehen, unter dramatischen Umständen fiel, aber das „Turmerlebnis“ – die Einsicht in die Gerechtigkeit aus Glauben – ganz ohne spektakuläre Begleiterscheinungen vor sich ging. Mit gutem Grund betont man neuerdings wieder den Einfluß der Mystik auf Luther, die Selbstversenkung im Glauben, die Tatsache, daß seine Sehnsucht nach dem „gnädigen Gott“ keine abstrakte war, sondern in dem Wunsch wurzelte, Gott zum „Freund“ zu haben: „Er ist vor dir und hinter dir. Meinst du, daß er im Himmel auf einem Kissen liege und schlafe?“

Die Überzeugung, daß Gott ihm nahe war, gab dem „Mönchlein“ die Sicherheit im Auftreten gegen die Großen, gegen die Überlieferung und die theologisch-korrekten Lehrmeinungen. Es stand dahinter keine Arroganz. Luther hat mehrfach erklärt, wie schwer er das Argument nahm, daß er doch allein sei und unmöglich recht haben könne, wenn die Mehrheit widerspreche. Die Heilige Schrift, seine Vernunft und sein Gewissen ließen ihm aber keine Wahl. Das erklärt sein „Hier stehe ich!“ Das erklärt aber auch seinen Eigensinn, der nicht aus Selbstüberschätzung resultierte, sondern aus der Auffassung, daß er Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen.

Der Glaube, meinte Martin Luther, setze den Menschen in ein Gefolgschaftsverhältnis zu Gott. Die Kirche war für ihn immer ecclesia militans, die „kämpfende Kirche“, in deren Reihen man weder Feigheit noch Sentimentalität brauchen konnte.

Das war die Ursache für seine Bindung an Christus, den „Mann“ oder auch den „Siegmann“, den „wahren Hauptmann“, zu dem er stehen müsse wie der Ritter zu seinem Herrn, wie der Soldat zu seinem Befehlshaber. Glauben, meinte Luther, setze den Menschen in ein Gefolgschaftsverhältnis. Die Kirche war für ihn immer ecclesia militans, „kämpfende Kirche“, in ihren Reihen konnte man weder Feigheit noch Sentimentalität brauchen. Denn der Christ vertraut auf den Mächtigeren, denn der Glaube ist, wie es in Luthers Vorrede zum Römerbrief heißt, den Menschen „eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade … Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnaden macht fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen!“

Der Hinweis auf den „Trotz“ ist von Bedeutung. Ohne Bereitschaft zum Trotzen, zum Widerstandleisten, keine Reformation. Wäre Luther den taktischen Erwägungen der Moderaten oder den klugen Empfehlungen seiner Freunde gefolgt, hätte es nur ein Reförmchen gegeben, irgendeinen mehr oder weniger faulen Kompromiß. Aber Luther war kampfbereit, auch kampflustig. Daraus folgte die Schärfe seiner Angriffe, sogar seine Ausfälligkeit gegen diejenigen, die ihm in den Weg traten. Deshalb bewunderte er Arminius sehr, in dem er den ersten deutschen Helden sah. „Wenn ich ein Poet wäre“, meinte er einmal, „so wollt ich den zelebrieren. Ich hab ihn von Herzen lieb.“ Luthers Zeitgenossen hielten ihn selbst für einen zweiten Arminius, der gekommen war wie der germanische Führer, um sie von Rom zu befreien.

Der Aufstieg Luthers zum Volkshelden nach dem Thesenanschlag von 1517 hatte seine Ursache ganz wesentlich darin, daß die Deutschen in ihm den von Gott Gesandten sahen, der die „gravamina“, die Beschwerden, der Nation gegen den päpstlichen Stuhl zusammenfaßte und die offensichtliche Verderbtheit der Kirche durch eine neue, an der Reinheit der ersten Gemeinde ausgerichtete, also wahrhaft evangelische Ordnung ersetzen werde.

Dabei vergaß Luther nicht, daß neben den geistlichen die weltlichen Mißstände im Reich behoben werden mußten. Für deren eigentliche Ursache hielt er die politische Zersplitterung und die Machtlosigkeit des Kaisers: „Wenn Deutschland unter einem Haupte wäre und wäre in einer Hand, so wär’s unüberwindlich“ und „Deutschland ist wie ein kräftiges Pferd, das Speise und alles hat, was es bedarf. Es fehlt ihm nur der Reiter“.

Seine anfängliche Hoffnung auf Karl V. – „das edle deutsche Blut“ – wurde zwar enttäuscht. Trotzdem hielt Luther mit erstaunlicher Hartnäckigkeit daran fest, daß der Kaiser, der sich gegen ihn gewandt hatte und die neue Lehre verfolgte, von Gott gegebene Obrigkeit sei. Diese Haltung war nicht frei von Widersprüchen, erklärt sich aber zuletzt daraus, daß Luther die Bedrohung Deutschlands durch die Osmanen sah und in dieser Lage die Unterstützung des Habsburgers bei der Verteidigung der Ostgrenze für unabdingbar hielt. Die Aufgabe der Fürsten und des Kaisers war für ihn eindeutig: Sie mußten dafür sorgen, daß man „unsere armen Deutschen nicht auf der Fleischbank opfere“, und sie hätten die „Pflicht, gegen die Türken zu ziehen und das Vaterland und arme Leute zu retten“.

Daran, daß das gelingen werde, hat Luther in seinen späteren Jahren oft gezweifelt. Es sind Aussagen überliefert, die von schwärzestem Pessimismus zeugen: „Deutschland ist allzeit das beste Land und Nation gewesen, es wird ihm aber gehen wie Troja, daß man wird sagen: Es ist aus!“ Die Schuld lag seiner Meinung nach bei den Deutschen selbst, denen es – anders als ihren Nachbarn im Westen – nicht gelungen war, ihre innere Einheit herzustellen und aus der nationalen Geschichte eine Vorstellung zu gewinnen, die ihren Stolz speiste. In der Vergangenheit, meinte Luther, seien die Deutschen – auch wegen ihrer Kriegstüchtigkeit – das ruhmreichste Volk gewesen und von den Fremden gefürchtet und respektiert worden. Aber nun zögen sie nur noch die maßlose Feindschaft der anderen auf sich: „Es ist keine verachtetere Nation denn die Deutschen. Italiener heißen uns Bestien, Frankreich und England spotten unser und alle anderen Länder.“ Und: Die Deutschen „sind fast aller Völker Affen“.

Für Luther stand fest, daß Gottes Reich nicht von Menschenhand errichtet werde und die Berufung auf das Evangelium in staatlichen Dingen immer zu Mißbrauch führe. Darum kämpfte er so erbittert gegen die „Schwärmer“ und den linken Flügel der Reformation.

Luther hat diese Demütigung nicht durch Schmeichelei zu therapieren gesucht, den Deutschen schon gar nicht eingeredet, daß sie Gottes „auserwähltes Volk“ seien. Eine Versuchung, der die meisten religiösen Neuerer nachgegeben haben. Dagegen setzte er seinen prinzipiellen Vorbehalt gegen jede Vermischung von Irdischem und Göttlichem. Für Luther stand fest, daß Gottes Reich nicht von Menschenhand errichtet werde und die Berufung auf das Evangelium in staatlichen Angelegenheiten immer zu Mißbrauch führe. Darum kämpfte er so erbittert gegen die „Schwärmer“ und den ganzen linken Flügel der Reformation, darum ging er nicht mit den aufständischen Bauern, die sich auf ihn beriefen, aber seinen Begriff von Freiheit verdrehten.

Auch das hatte mit dem konservativen Zug seines Denkens zu tun. In Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“ hieß es ausdrücklich, man könne „die Welt nicht nach dem Evangelium regieren; denn das hieße die wilden Bestien losbinden“. Weder mit der Berufung auf die geistliche Natur des Menschen noch mit dem Gebot der Feindesliebe lasse sich Staat machen. Der Staat sei notwendig ordnende Macht, die auch im notwendigen Maß Gewalt anwenden müsse, um die Latenz der zerstörerischen Kräfte in einer der Sünde verfallenen Welt unter Kontrolle zu halten.

Darum war Luther skeptisch in bezug auf die Verbesserung der Welt und sah seine eigene Aufgabe im Hinblick auf die Kirche keineswegs in radikaler Zerstörung, sondern in einer Rückführung auf die intakten Fundamente. Er wollte die Kirche in Ordnung bringen, aber keineswegs neu erfinden. Seine für den heutigen Protestantismus verstörende Haltung zu Fragen der Liturgie, der Messe, der Marienverehrung oder der Beichte erklären sich aus dieser Art von Konservatismus. Sie erklären weiter den starken Vorbehalt gegenüber jeder Verehrung seiner Person. Die Titel, die man ihm antrug, hat er mal schroff, mal höflich zurückgewiesen. Einer ist schließlich doch an ihm hängengeblieben: der des „Propheten der Deutschen“. Von außen ist er früh so bezeichnet worden, aber akzeptiert hat er ihn erst spät, widerstrebend und mit einem ironisch gefärbten Kommentar und davon gesprochen, daß er „der Deutschen Prophet“ sei, „denn solchen hoffärtigen Namen muß ich mir hinfort selbst zumessen, meinen Papisten und Eseln zu Lust und Gefallen“.

Luther hat zu tief von der Last des Prophetenamtes gewußt, als daß er die Bezeichnung dekorativ fand. Ihm stand das Widerstreben der Propheten des Alten Testaments vor Augen, die angesichts der Berufung flohen (Jona) oder in Todesangst versetzt wurden (Jesaja), die sich von Gott aus ihrem früheren Leben „weggerissen“ fühlten (Amos) und einem bitteren Schicksal entgegensahen (Jeremia). Und im Neuen Testament heißt es, daß der Prophet nichts gelte in seinem Vaterland.

Das immerhin traf für Luther nicht zu. In seiner Totenrede auf Luther nannte sein Freund Bugenhagen ihn den „höchsten Apostel und Propheten der Deutschen“, und Goethe zitierte den Koran mit den Worten, Gott habe „‘keinem Volk einen Propheten geschickt als in seiner Sprache.’ Und so sind denn die Deutschen erst durch Luther ein Volk geworden.“ 






Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker, Publizist und Buchautor. Er arbeitet im Höheren Schuldienst des Landes Nieder­sachsen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Reizwort „völkisch“ („Ein schwieriger Begriff“, JF 40/16).

Karlheinz Weißmann: Martin Luther für junge Leser. Prophet der Deutschen.JF-Edition, Berlin 2017, gebunden, 172 Seiten, mit Farbillustrationen, 24,90 Euro

Foto: Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms, 1521: Luther gelang es nicht, den Kaiser, Karl V., für seine Sache zu gewinnen. Um so mehr begeisterte sich das Volk für ihn, Tausende jubelten ihm beim Einzug in Worms zu. Da war Luther schon längst zum deutschen Volkshelden geworden.