© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Pankraz,
J. Wickram und die Politik ohne Patent

Im „Rollwagenbüchlein“, jener berühmten, 1555 in Straßburg erschienenen  Schwanksammlung des elsässischen Lutheraners Jörg Wickram, findet sich auch die Geschichte von dem Mönchlein, das am Fastentag gern ein appetitliches Stück Kalbfleisch verzehren möchte und das dieses Fleisch deshalb eifrig durch den Weihwasserkessel zieht und dazu in beschwörendem Tonfall sagt: „So, jetzt bist du ein Fisch, jetzt bist du ein Fisch!“ Fische galten nicht als Fleisch und durften am Fastentag gegessen werden.

Betrachtet man die Praktiken der aktuellen Politik in Deutschland und Europa, so stellt man fest, daß sie sich immer mehr der Methode des fleischhungrigen Mönchleins aus dem Rollwagenbüchlein  anpassen. Maßnahmen und Programmentwürfe des politischen Gegners, die zunächst lauthals verurteilt oder gar kriminalisiert wurden, werden nach Ablauf einer gewissen Karenzzeit plötzlich salonfähig. Man zieht sie durch den Weihwasserkessel der politischen Korrektheit und setzt sie nun ungeniert selber ein, während der ursprüngliche Erfinder, der „rechte Rand“ zum Beispiel, weiter verdammt wird.

Am auffälligsten war das jüngsthin bei der Zuwanderer- und Asylfrage. Zuerst propagierte man eine völlig ungehemmte „Willkommenskultur“ und verschrie alle, die dagegen waren, als „Nazis“ und Demokratiefeinde. Dann sagte man eine Weile gar nichts – und heute  praktiziert man ungeniert die Abgrenzungs- und Kontrollmethoden, die der verteufelte Meinungsgegner von einst ins Spiel gebracht hatte. Es ging den herrschenden Weihwasserspezialisten von Anfang an nicht um das „Was“, sondern einzig um das „Wer“. Nicht was einer vorschlägt und propagiert, zählt heute in der Politik, sondern nur, wer es sagt und praktiziert.


Läuft da etwas schief? Oder ist das der natürliche Gang der Politik, jeder Politik? Nun, man sollte sich zunächst einmal vergegenwärtigen, wie sehr diese Art von Politik von den rechtsstaatlichen Grundregeln eines jeden wohlgeordneten, auf Friedensstiftung bedachten Gemeinwesens abweicht. Im allgemeinen gilt ja, daß große, tief in das Leben jedes Einzelnen eingreifende Projekte und Neuerungen, sogenannte „Erfindungen“, gesetzlich geschützt, nämlich „patentiert“ sind; der Erfinder besitzt ein Patent auf sie. Benutzer müssen dafür bezahlen, zumindest den Namen des Erfinders nennen und respektieren.

An sich sollten auch politische Parteien oder einzelne Politiker ihre oft folgenreichen, manchmal geradezu schicksalsträchtigen Programme und Taten patentieren dürfen. Sebastian Kurz von der ÖVP, der neue österreichische Bundeskanzler in spe, würde dann für seinen abrupten Kurswechsel in der Flüchtlingsfrage, der ihn an die Spitze der Wiener Politik gebracht hat, zwar nicht unbedingt Honorar an seine Vorbilder Christian Strache und Viktor Orbán zahlen müssen, wohl aber müßte er die beiden als Vorbilder kenntlich machen und respektvoll beim Namen nennen. Doch das zu erwarten, wäre völlig utopisch.

Dabei war die Politik keineswegs immer und grundsätzlich patentfeindlich, fast im Gegenteil. Noch sozialdemokratische Politiker des neunzehnten Jahrhunderts wie Wilhelm Liebknecht oder August Bebel legten größten Wert auf die öffentliche Fixierung ihrer Politik als „typisch sozialdemokratisch“ und hätten nichts gegen ihre Patentierung gehabt. Bismarck mit seiner progressiven Sozialpolitik galt ihnen als „Ideenräuber“  (Bebel). Die Ersetzung des Prinzips Patentamt durch das Prinzip Weihwasserkessel ist neuesten Ursprungs.

Heutige Mainstreampolitiker in führender Position denken nicht mehr selber, sondern sie lassen denken. Und wenn dabei nichts herauskommt (oder das, was herauskommt, gänzlich außerhalb der objektiven Notwendigkeiten liegt), greifen sie eben ungeniert ins Programmfeld selbst des angefeindetsten Meinungsgegners und ziehen dessen Thesen durch den mit flüssigen Phrasen angefüllten Gutmenschenkessel im eigenen Parteibüro. Die aktuelle Politik, die dabei herauskommt, mag für eine Weile den Lauf der Dinge verbessern, doch à la longue wird die Misere nur vertieft.


Verlogenheit und Augenwischerei ziehen ein. Man schmückt sich mit fremden Federn und beschmutzt sie letzten Endes nur. Und das bleibt nicht nur auf die Politik beschränkt; Schöpfertum und Kreativität insgesamt werden immer mehr abgewertet. Nicht die Erfinder und Ideenhaber seien der Motor für ein gutes Leben, schreibt der indisch-amerikanische Soziologe Oded Shenkar in seinem vielbeachteten Bestseller „Copycats“ (erschienen im Buchverlag der Harvard-Universität), sondern einzig und allein die „Imitatoren“, also die schlau-egoistischen Kopierer, Nachahmer und Auswerter.

Bloße Erfinder und Ideenhaber, schreibt Shenkar, seien nur dann zu ertragen. wenn sie in die Hände von Imitatoren geraten, die aus den Schöpfungen erst etwas wirklich Nützliches und Verwertbares machten. Zitat Shenkar: „Wichtig für die Imitatoren ist die Kunst des guten Nachahmens. Wissenschaftler, die die Dynamik sozialer Systeme modellieren, haben herausgefunden, daß die Frage, wie man nachahmt und wann, den entscheidenden Unterschied macht zwischen demjenigen, der seine Rivalen überholt, und demjenigen, der als ungeschickter ‘Raubkopierer’ entblößt und vielleicht sogat dafür bestraft wird.“

Für Pankraz scheint die Sache ziemlich klar. Die gegenwärtigen Herumrührer im großen politischen Weihwasserbecken sind wohl ganz überwiegend schlechte Raubkopierer, die nicht einmal ordentlich nachahmen können und dafür bald zur Rechenschaft gezogen werden. Bleibt die Frage nach den originären Erfindern und Ideenhabern. Müssen die sich wirklich, wie Shenkar meint, damit abfinden, daß es gewissermaßen ihr Schicksal ist, dauernd übers Ohr gehauen zu werden?

Denkbar ist ja auch, daß sie – wie die Leser von Jörg Wickrams „Rollwagenbüchlein“ und Wickram selbst – von der Notwendigkeit einer durchgreifenden Reformation erfüllt werden und helfen, sie herbeizuführen.