© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

„Wohlstand für alle“
Streitschrift: Der Volkswirt Thomas Straubhaar sieht mit dem bedingungslosen Grundeinkommen den sozialen mit dem liberalen Wohlfahrtsstaat versöhnt
Felix Dirsch

Monat für Monat 560 Euro plus Wohngeld aufs eigene Konto, ohne etwas dafür zu tun – was nach links­alternativem Bummelstudententraum klingt, ist seit Jahresanfang Wirklichkeit. Zumindest für 2.000 zufällig ausgewählte Arbeitslose in Finnland, wo seit 2015 eine Mitte-Rechts-Regierung im Amt ist. Vorerst bis 2019 soll das Experiment mit dem finnischen Grundeinkommen laufen. In Deutschland gibt es sogar eintausend Euro monatlich – allerdings lediglich für ein Jahr und bislang nur für jene 119 Glücklichen, die ein aus Spenden finanziertes Grundeinkommen des gemeinnützigen Vereins „Mein Grundeinkommen“ gewonnen haben. Initiiert von dem Internet-Unternehmer Michael Bohmeyer wurde der Berliner Verein 2014 ins Leben gerufen. Schon bei der ersten Crowdfunding-Kampagne kamen über 50.000 Euro zusammen, mit denen dann das Pilotprojekt startete.

2.500 Franken für jeden Erwachsenen abgelehnt

Was einst nur in Hauptseminaren theoretisch diskutiert wurde, ist inzwischen ein gängiges Zauberwort in den sozialpolitischen Debatten – das „bedingungslose Grundeinkommen“. In der Schweiz hatte es dieses Thema 2016 sogar geschafft, Gegenstand einer landesweiten Volksabstimmung zu werden. Zwar hat sich eine Dreiviertelmehrheit der Schweizer Stimmbürger dagegen entschieden, jedem Erwachsenen 2.500 Franken (2.160 Euro) und Minderjährigen 650 Franken (562 Euro) – allerdings bei Verlust sämtlicher Sozialleistungen – zu zahlen. Doch damit wurde zumindest in Europa ein Durchbruch geschafft, da diese Idee nun in weiteren Ländern auf reges Interesse stößt. Im Vorfeld des Grundeinkommen-Referendums fand erstmals eine breite öffentliche Kontroverse statt, die jenseits wissenschaftlicher Gegensätze den Horizont der Wähler erweitert haben dürfte – auch jener, die sich (noch) dagegen aussprachen.

Ganz so weit oben steht die Auseinandersetzung hierzulande nicht auf der politischen Agenda. Daher bedarf es Anstöße aus der Fachwelt. Der Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar, der sich in der Vergangenheit öfters als Mythenzerstörer betätigt hat, möchte den Sozialstaat nicht reformieren, sondern revolutionieren. Er schließt sich einigen Prominenten an, wie Götz Werner, Anthroposoph und Gründer der dm-Drogeriemarktkette („Einkommen für alle“) oder Ex-Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU/„Solidarisches Bürgergeld“).

Am Anfang dieser Absicht steht die schonungslose Analyse. Die Veränderungen der gesellschaftlichen Situation machen es notwendig, mehr als nur an Symptomen herumzudoktern. Die zentralen Herausforderungen sind bekannt: Die fortschreitende Alterung der Bevölkerung im Durchschnitt macht mehr Ausgaben nötig, insbesondere auf dem Sektor des Gesundheitswesens. Der demographische Wandel ist bereits in der unmittelbaren Gegenwart zu spüren, verschärft sich jedoch, wenn die Baby-Boomer-Generation in Rente geht, die selbst in toto weit weniger Kinder in die Welt gesetzt hat als ihre Eltern.

Außerdem wird die Digitalisierung eine nicht geringe Zahl an Arbeitsplätzen kosten. Die Menge an neu entstandenen Beschäftigungsmöglichkeiten ist wahrscheinlich geringer. Darüber hinaus dürfte die Individualisierung der sozialen Strukturen weitergehen und traditionelle Bindungen, etwa die herkömmliche Familie, als ergänzungsbedürftig erweisen. Das (stark protestantisch ausgerichtete) Arbeitsethos, auf das die Väter der Sozialen Marktwirtschaft vor deutlich über einem halben Jahrhundert noch bauen konnten, ist jetzt schon zum großen Teil erodiert. Nur die wenigsten werden Lust haben (und die Möglichkeit), 45 Jahre in einem vollen Arbeitsverhältnis zu bleiben, um sich danach über eine durchschnittliche Rente freuen zu können.

Die erwähnten Wandlungen bringen Umstellungen mit sich, die alles, was vorher schon da war, in den Schatten stellen dürften. Man braucht nur auf die Hartz-IV-Debatte in Gewerkschaftskreisen hinzuweisen, um die neue Dimension zu erkennen. Verglichen mit den Agenda-2010-Reformen sind die neuen Aufgaben wahrlich herkulisch. Straubhaar gehört zu jenen, die sie anpacken wollen.

Um die zu erwartenden sozialen Konflikte abfedern zu können, fordern die Grundeinkommen-Befürworter die Auszahlung eines bestimmten Betrages für jedermann – vom Säugling bis zum Greis. Zudem soll jedes zusätzliche Einkommen versteuert werden. Egal, ob es sich um herkömmliche Verdienste, Zinsen, Erträge aus maschinellen Innovationen oder anderes handelt: Der Fiskus soll einen Zugriff darauf haben, was vermehrte Einnahmen ermöglicht.

Bedürftigkeitsprüfungen entfallen grundsätzlich

Diese Forderung ist deshalb sinnvoll, weil Veränderungen der Arbeitswelt –technische Rationalisierungen/„Industrie 4.0“ (JF 24/17) – die soziale Schere weiter öffnen dürften. Schon jetzt werden Schieflagen landauf, landab beklagt, beispielsweise wachsende Kinderarmut, in Zukunft wieder verstärkt Rentnerarmut. Dem soll entgegengesteuert werden. Die herkömmlichen Säulen der Sozialversicherung werden schwächer, also wird überlegt, wie die Ausgaben auf neue Schultern verteilt werden können.

Straubhaar und andere Verfechter des Projekts führen diverse Vorteile ins Feld. Dazu zählen Transparenz und Einfachheit. Die Nivellierung der Einkommensquellen macht komplizierte steuerliche Differenzierungen unnötig. Jeder bekommt etwas und muß gemäß eigener Einkünfte etwas abgeben, unabhängig von Status oder Lebensform. Bedürftigkeitsprüfungen entfielen grundsätzlich. Jedoch ist diese Annahme nicht ganz realistisch: Es gibt natürlich Bedürftige, die nicht mit Straubhaars 925 Euro pro Kopf auskommen und dennoch außerstande sind, hinzuzuverdienen, etwa krankheitsbedingt. Auch Straubhaar kommt nicht darum herum, einige Einwände zu erörtern. Wie bei allen sozialstaatlichen Dissonanzen ist der zugrundeliegende Gerechtigkeitsbegriff entscheidend. Maßstab beim bedingungslosen Grundeinkommen ist (wenigstens im Hinblick auf die Höhe der allgemeinen Zuteilung) die Gleichheit; Leistungsgerechtigkeit, auf der die Marktwirtschaft notwendigerweise basiert, rückt indessen unvermeidlich die Ungleichheit in den Vordergrund, die durch Umverteilung ein Stück weit ausgeglichen wird.

Insofern fällt die liberale Ausrichtung auch in dieser Auseinandersetzung nicht unbedingt mit der sozialen zusammen, wie Straubhaar insinuiert. Gibt es das bedingungslose Grundeinkommen, fehlt (im unteren Einkommenssegment) der Anreiz, einer Beschäftigung nachzugehen. Auch die Gefahren von Fehlallokationen liegen auf der Hand. Warum brauchen Gutverdiener eine solche Finanzspritze? Gegner des Grundeinkommens wenden ein, daß es nicht aufkommensneutral sei, ungeachtet der Verrechnung mit allen bisher gezahlten Sozialleistungen; vielmehr seien höhere Steuersätze zur Kompensation unumgänglich.

Die Dispute in den nächsten Jahren über die sozialpolitische Revolution werden in allen westlichen Ländern wohl heftiger werden. Für das Grundeinkommen gibt es gute Gründe – allerdings stehen diesen ebenso gute entgegen. Es bleibt abzuwarten, wie der gordische Knoten durchschlagen wird. Straubhaars Schrift ist eine hervorragende Grundlage für die kommenden Debatten.

Gemeinnütziger Verein Mein Grundeinkommen:  www.mein-grundeinkommen.de

Thomas Straubhaar: Radikal gerecht. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2017, 248 Seiten, gebunden, 17 Euro