© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Letzte Ruhe für Nummer 1564
Kriegsopfer: Noch immer werden im Oderbruch Gefallene der Schlacht um Berlin gefunden
Paul Meilitz

Der letzte Sarkophag in der langen Reihe trug die Nummer 1564. Es war eines jener kleinen Behältnisse aus grauem Preßstoff, in denen der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge seit Anfang der neunziger Jahre die sterblichen Überreste gefallener Soldaten, egal ob deutsche oder sowjetische, zur letzten Ruhe bettet. Der Sarkophag mit der Nummer 1564 und 47 weitere standen am vergangenen Sonntag auf dem deutschen Soldatenfriedhof Lietzen, einer der drei sogenannten Zubettungsfriedhöfe im Bundesland Brandenburg. Angelegt wurde der Friedhof, sieben Kilometer südlich der Kreisstadt Seelow (Märkisch-Oderland), bereits Anfang 1945 durch die Wehrmacht, die seit Februar 1945 die Oderbruchkante gegen die nach Berlin drängende Rote Armee zu halten versuchte.  

Dreistellige Zahl an         Gefallenen erwartet

Der Soldatenfriedhof Lietzen befindet sich heute wieder auf Grund und Boden der gräflichen Familie Hardenberg, die 1992 aus den alten Bundesländern in ihre Heimat zurückkehrte. Oberhaupt ist Gebhard Graf von Hardenberg. Im Mittelpunkt der sehr persönlich gehaltenen Ansprache, die der Nachkomme des preußischen Militärreformers aus den Befreiungskriegen den 120 Gästen darbot, stand das Leid der Gefallenen, verbunden mit der Verpflichtung, dem Volksbund unentgeltlich Erweiterungsflächen zur Verfügung zu stellen, sollte der kleine Hangfriedhof solcher bedürfen. 

Denn daß auch in den kommenden Jahren Gefallene in dreistelliger Zahl gefunden werden, steht nach Auskunft des Landesgeschäftsführers Oliver Breithaupt außer Frage. Der Lietzener Soldatenfriedhof hat nicht nur aus diesem Grund einen deutlich größeren Bruder, und die Einbettungsfeier am Sonntag war nur der Nachklang einer größeren elf Tage zuvor. 

Anlaß und Veranstalter waren die gleichen, jedoch unterschied sich das gesprochene Wort in auffälliger Weise. Etwa 500 Gäste und Mitwirkende hatten sich Anfang des Monats auf dem Waldfriedhof Halbe (Kreis Dahme-Spreewald) versammelt, wo 75 Sarkophage auf die Übergabe in die märkische Erde warteten. Ihr Inhalt: 73 Männer, davon die meisten als deutsche Soldaten bestimmt, und zwei Frauen, vermutlich Krankenschwestern, deren sterbliche Überreste noch Spuren einer schweren Mißhandlung aufwiesen. Gefunden wurden sie (wie auch jene in Lietzen) von Bau- und Waldarbeitern, Kampfmittelbeseitigern oder Pilzsuchern. Zuweilen aber auch von Militariasammlern, die leider nicht immer den Anstand besitzen, persönliche Gegenstände und Erkennungsmarken am Fundort zu belassen. Das eigentliche Bergen, Protokollieren, Verwahren und Einsargen ist dann Sache des Umbetters Joachim Kozlowski. Amtliche Todesfallerklärung und Benachrichtigung von Angehörigen veranlaßt die ehemalige Wehrmachtauskunftstelle (WASt) in Berlin, die heute verkürzt Deutsche Dienststelle heißt (JF 47/12) und im Januar 2018 leider ihre Selbständigkeit verlieren und im Bundesarchiv aufgehen wird. 

Zwei Besonderheiten markieren den Waldfriedhof Halbe. Es handelt sich um eine der größten Kriegsgräberstätten auf unserem Staatsgebiet und zugleich um den größten Soldatenfriedhof in Deutschland. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich aus der Rechtslage, die zivile Kriegsopfer einschließt. Danach dürfte Halbe mit seinen etwa 25.000 Toten zahlenmäßig von den Bombenopferfeldern in Hamburg und Dresden übertroffen werden. Zweite Besonderheit ist, daß der Waldfriedhof Halbe seit 2002 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge betreut wird. 

Für Lietzen gilt das nicht, hier ist das Amt Seelow-Land offizieller Sachwalter. Der Volksbund, der im Auftrag der Bundesregierung eigentlich nur für deutsche Kriegsgräber im Ausland zuständig ist, schloß im Jahr 2002 eine Vereinbarung mit dem zuständigen Amt Schenkenländchen ab, übernahm die Pflegeverantwortung, die Öffentlichkeitsarbeit einschließlich der Angehörigenbetreuung und richtete in Halbe eine internationale Jugend- und Begegnungsstätte ein. Einbettungsfeiern wie diese finden einmal im Jahr statt, und das deutschlandweit nur in Halbe und Lietzen. 

In Brandenburg geborgene Gefallene der Roten Armee werden alle zwei Jahre mit einer deutsch-russischen Gedenkfeier in Lebus bei Frankfurt (Oder) bestattet. Auch dieser sogenannte Zubettungsfriedhof verdankt seine Funktion einer Initiative des Volksbundes, die gerade noch rechtzeitig vor dem Abzug der Besatzungsmacht im Jahr 1994 „unter Dach und Fach“ gebracht werden konnte.

Nur AfD und FDP            legen Kränze nieder

Vor den 75 Sarkophagen in Halbe trat als Hauptredner der frühere Bundesinnenminister Rudolf Seiters in seiner aktuellen Funktion als Präsident des Deutschen Roten Kreuzes ans Mikrofon. Anders als in Lietzen standen nun aber nicht die Gefallenen im Mittelpunkt, sondern eine eher triviale Botschaft. Seiters formulierte zunächst an der Oberfläche des humanitären Völkerrechts entlang, lobte vor allem den Suchdienst seines DRK, erwähnte mit keinem Wort, daß die Bundesregierung innerhalb Deutschlands nach Kriegstoten gar nicht aktiv suchen läßt und unterließ es fast erwartungsgemäß nicht, einen Bogen zur aktuellen Flüchtlingswelle zu schlagen. 

In die gleiche Kerbe, nur etwas deftiger, hieb die Superintendentin des Kirchenkreises Zossen-Fläming, Katharina Furian. Hatte ihr Amtsbruder Pfarrer Thomas Krüger in Lietzen die Gefallenen mit viel Würde gesegnet und sich einer moralischen Verurteilung enthalten, verkündete die Superintendentin, sie wolle „der Opfer und der Schuld“ gedenken – und kaum ausgesprochen, waren alle in Halbe ruhenden und soeben zur Einbettung vorbereiteten deutschen Gefallenen in Täternähe gerückt. Entschlossen leitete die Kirchenfunktionärin ihren „Segen“ schließlich in die Tagespolitik über: „Fremdenfeindlichkeit hat in diesem Land wieder ein öffentliches Gesicht bekommen“ – vermutlich um ihren Unwillen über das Ergebnis der Bundestagswahl zum Ausdruck zu bringen. 

Die örtlichen politischen Parteien hatten sich rar gemacht. Auf Kranzschleifen fanden sich lediglich die Kürzel AfD (in Lietzen) und FDP (in Halbe). 

Daß ungeachtet manch verbaler Schieflagen in Halbe die Beisetzung dennoch gelang, ist maßgeblich dem tadellosen Erscheinungsbild der etwa hundert Bundeswehrsoldaten zu verdanken. Die 5. Kompanie des Logistikbataillons 172 aus Beelitz, die 5. Kompanie des Informationstechnikbataillons 381 aus Storkow und die 3. Kompanie des schweren Pionierbataillons 901 aus Havelberg waren es am Ende, die der Veranstaltung zu einer würdevollen Mischung aus Stille, Einkehr, Nachdenklichkeit und Trauer verhalfen.





Schlacht um Berlin April 1945

Am 16. April 1945 begann die Rote Armee ihre finale Offensive, die der Eroberung der Reichshauptstadt Berlin galt. Dabei griffen knapp zwei Millionen Rotarmisten der 1. Weißrussischen Front unter dem sowjetischen Marschall Georgi Schukow und der 1. Ukrainischen Front unter Marschall Iwan Konjew die hoffnungslos unterlegenen Wehrmachtseinheiten an. Während Konjew aus der Lausitz Richtung Norden nach Berlin stieß, konnte Schukow nach schweren Gefechten um die Seelower Höhen westwärts stoßen. Die versprengten Reste der deutschen Truppen, etwa 50.000 Mann, wurden dabei zwischen beiden im Raum Halbe und Beeskow südöstlich von Berlin eingekesselt und in direkten Kämpfen und unter massivem Artilleriebeschuß aufgerieben. Dabei wurden etwa 30.000 deutsche Soldaten und bis zu 10.000 Zivilisten getötet. Bisher konnten über 22.000 Opfer des Kessels von Halbe auf dem dortigen „Waldfriedhof Halbe“ ihre letzte Ruhe finden.