© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Knapp daneben
Besser Schein als gar kein Sein
Karl Heinzen

Gret_chen_chen“, so weiß das in der außerschulischen Jugendbildung engagierte Online-Magazin „Bento“ zu berichten, hat auf ihrem Instagram-Account „wirklich schon viel ausprobiert“. So porträtierte sie sich beim Mittagessen auf dem Friedhof mit einem biegsamen Rohr um den Kopf. Ein anderes Mal trug sie eine Gesichtsmaske, die in „irritierender Weise“ an eine Scheibe Salami erinnerte. Der Clou sollte aber erst noch folgen: Allen Ernstes klebte sie sich künstliche Wimpern in die Nasenlöcher. Das sah wirklich (oder jedenfalls beinahe) so aus, als würden ihr Haare aus der Nase wachsen. Spätestens mit dieser Kreation ist „gret_chen_chen“ stilbildend geworden. Immer mehr junge Frauen folgen auf Instagram ihrem Beispiel. Manche von ihnen werden erleichtert sein, daß der mühsame Prozeß ihrer Selbstfindung damit endlich zum Abschluß gebracht werden konnte.

Wie soll man dem hohen Anspruch gerecht werden, etwas Besonderes, unverwechselbar zu sein?

Plastikwimpern lassen sich immerhin noch leicht entfernen, wenn man beschließt, doch lieber einem anderen Selbstbild Ausdruck zu verleihen. Manche legen sich hingegen dauerhaft fest, indem sie zum Beispiel künstliche Sommersprossen auf ihre Wangen tätowieren lassen. Sie alle, wie mutig oder weniger mutig ihr „Styling“ auch ist, eint aber dasselbe Problem. Die Gesellschaft stellt den Einzelnen in den Mittelpunkt. Das mag gut gemeint sein, bereitet letztendlich aber bloß Streß. Wie soll man dem hohen Anspruch gerecht werden, etwas Besonderes, nämlich ein unverwechselbares, einmaliges Individuum zu sein? Wer in sich hineinhorcht, erhält darauf nur selten eine überzeugende Antwort. Was den Einzelnen ausmacht, ist schnell erzählt. Selbst die Biographien berühmter Koryphäen lesen sich zumeist wie eine zufällige Abfolge von Banalitäten. Außerdem können andere gar nicht sehen, was in einem steckt. Daher entpuppen sich so viele, die man für gestandene Persönlichkeiten hält, bei näherem Kennenlernen als charakterlose Hohlköpfe. Ehrlicher ist, wer sich auf Äußerlichkeiten beschränkt. Das Aussehen eines Menschen sagt zwar nur wenig über ihn aus. Wenn man nichts hinter ihm vermutet, kann der Schein aber auch nicht trügen.