© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

„Archäologie ist ein extrem politisches Geschäft“
Archäologie: Wilhelm II., die „Spatenwissenschaft“ und die „vorsichtige Durchdringung“ des Orients
Wolfgang Müller

Wenn heute überhaupt noch von Wilhelms II. Verdiensten als Förderer der Wissenschaft die Rede ist, dann nur im Zusammenhang mit dem 1910 eröffneten „deutschen Oxford“, dem Ensemble physikalisch-chemischer Forschungsinstitute in Berlin-Dahlem. Doch ungeachtet seiner großen Aufgeschlossenheit für die moderne Naturwissenschaft und Technik: eigentlich geliebt hat seine Majestät die Historie, vornehmlich die Geschichte der Kulturen Vorderasiens.

Entsprechend leidenschaftlich fiel das kaiserliche Engagement für die großen Ausgrabungsunternehmen der deutschen Archäologie aus, in Babylon, Ninive, Baalbek, Jericho, Uruk, Pergamon, Milet, für das er mehr noch als für die Gründung der Dahlemer Institute Anspruch auf einen prominenten Platz in der Wissenschaftsgeschichte erheben darf. Seine Biographen freilich, zuvörderst der Wilhelm II.-Hasser John C. G. Röhl, haben freilich diesen Anspruch kaum wahrgenommen. Gerade die Archäologie-Begeisterung galt ihnen als unbeachtliche Marotte, so wie sich einst ignorante Hofdamen über die „Buddelei“ belustigten, an der sich der Kaiser mit „seiner kleinen Schippe in der Hand“ sogar selbst beteiligte.   

Eine derartige Geringschätzung eines „historisch relevanten Aspekts von Wilhelms Persönlichkeit und Herrschafts-praxis“, seines zumeist öffentlich inszenierten Interesses für die archäologische Erschließung des mittelmeerisch-vorderorientalischen Altertums“, hat die Wuppertaler Privatdozentin Sabine Mangold-Will, Verfasserin einer Monographie über eine „weltbürgerliche Wissenschaft“, die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert (2003), herausgefordert, diese peinliche Forschungslücke endlich zu schließen. 

Ausgangspunkt für ihren jetzt vorgelegten Sammelband war eine bereits 2012 veranstaltete Tagung „Wilhelm II. – Archäologie und Politik um 1900“, die den Monarchen in einem vielfältigen Spannungsfeld von Wissenschaft, verschiedener Institutionen und Interessen sowie seiner Ambitionen als „wissenschaftsaffiner und selbst ‘forschender’ Kaiser“ präsentieren sollte. 

Freilegung Baalbeks auf Initiative Kaiser Wilhelms

Unter den hier veröffentlichten Tagungsreferaten sind es vor allem drei Studien zur zweiten kaiserlichen Orientreise im Herbst 1898, die dieses Spannungsfeld heller ausleuchten. Unter dem glücklichen Titel „‘Archäologie ist ein extrem politisches Geschäft’“ skizzieren Dieter Vieweger, Julia und Marcel Serr zunächst den Verlauf dieser von Konstantinopel über Jerusalem nach Damaskus führenden dreiwöchigen Reise, die im nationalen Bildgedächtnis auf den Einritt in Jerusalem zusammengeschrumpft und, à la „Panthersprung“ und „Hunnenrede“, mit den üblichen Assoziationen zum außenpolitischen Dilettantismus des Kaisers verknüpft ist. Tatsächlich verdichten sich aber auf jeder Reiseetappe wilhelminische Real- und Symbolpolitik in einer während der zahlreichen Auslandsbesuche in Wilhelms dreißigjähriger Regierungszeit vorher und nachher nie wieder erreichten Weise. 

Zuerst, in Konstantinopel, bei der Begegnung mit dem Alleinherrscher Abdulhamid II., ging es um Politik und Ökonomie. Es galt die von Bismarck eingefädelten Beziehungen zum maroden Osmanischen Reich zu intensivieren, das trotz seiner wirtschaftlichen Schwäche zu einem bedeutenden Handelspartner des Kaiserreichs aufgerückt war, das sich aber gerade wegen dieser Schwäche zur „vorsichtigen Durchdringung“ im Interesse der deutschen Wirtschaft anbot. Mit der vom Sultan bei diesem Besuch erwirkten Erlaubnis, die von deutschen Banken finanzierte, von preußischen Ingenieuren gebaute Anatolische zur „Bagdad-Bahn“  verlängern zu dürfen, mit Stoßrichtung auf den Persischen Golf, meldete Wilhelm II. zugleich die weltpolitischen Ambitionen seines um einen „Platz an der Sonne“ ringenden Reiches an. Dieses Buhlen um die osmanische Gunst erreichte schließlich seinen diplomatischen Höhepunkt mit der berühmt-berüchtigten „Damaskus-Rede“ des Kaisers, mit der er sich als „treuer Freund der 300 Millionen Muhammedaner“ empfahl.

Soweit zur politisch-ökonomischen Dimension der Reise. Ihre symbolisch-kulturpolitische Ebene erreichte die „Friedensmission auf den Spuren der Kreuzfahrer“ erstmals in Jerusalem, wo das kaiserliche Paar mit Riesengefolge am Reformationstag an der Einweihung der protestantischen Erlöserkirche teilnahm, der zugedacht war, von der Heiligen Stadt aus ein weltweit sichtbares Zeichen zur Stärkung der protestantischen Glaubens- und Liebesgemeinschaft zu setzen.

Dieser Herrschaftsinszenierung des christlichen Kaisers folgte die Visite auf dem imposanten Ruinenfeld von Baalbek nahe Beirut, dem antiken Heliopolis. Fasziniert von der Monumentalität der Tempelanlagen, faßte Wilhelm, wie es der Klassische Archäologe Lars Petersen detailliert schildert, noch an Ort und Stelle den spontanen Entschluß, den Komplex freilegen zu lassen und die Ausgrabungen exklusiv aus seinem Dispositionsfonds zu finanzieren. Nicht allein, weil diese in Vergessenheit geratenen, bis dahin nur als touristische Attraktion vermarkteten Ruinen seine imperiale Vorstellungswelt ansprachen. Baalbek, schon in assyrischen und ägyptischen Inschriften erwähnt, unter Alexander dem Großen von Griechen besiedelt, unter Kaiser Augustus zur römischen Kolonie ausgebaut, im 7. Jahrhundert von der Arabern in eine Festung verwandelt, 1759 durch ein Erdbeben zerstört, schien in idealer Weise Wilhelms Lieblingsthese von den östlich-orientalischen Wurzeln der abendländischen Kultur zu bestätigen. Daher wollte er in den Ruinen die Überreste einer den Kulturtransfer vermittelnden „Brückenstadt“ zwischen Orient und Okzident sehen. 

Ökonomisch-militärisch-kulturelles Orientinteresse

Wie Sabine Mangold-Will in ihrer Deutung der Orientreise zur Diskussion stellt, sei das zwar eine objektiv haltlose geschichtsphilosophische Spekulation, die jedoch eines rationalen Kerns nicht entbehrte, wie er sich schließlich in der deutschen Orientpolitik und der ökonomisch-militärisch-kulturellen Infiltration des Osmanischen Reiches offenbarte. Wissenschaftlich unhaltbar seien die kühnen Konstruktionen sicher gewesen, die Wilhelm II. an die Translatio imperii, die Kontinuität des universalen Gottkönigtums glauben ließ, das seit seinen urzeitlichen Ursprüngen in Mesopotamien auf die römische und mittelalterlich-deutsche Universalmonarchie übertragen wurde. Darauf durfte sich die Autokratie seines Vorfahren, des preußischen Soldatenkönigs, ebenso berufen, wie sie dem Enkel des Reichsgründers Wilhelm I. erlaubte, seine aktuelle Herrschaft als „Amtmann Gottes“ zu legitimieren.

Wilhelms Vision einer um Vorder-asien erweiterten imperialen Herrschaft über Mitteleuropa, der Block der „heldischen“, spirituellen Völker gegen den „händlerischen“, materialistischen Westen, scheiterte nicht zuletzt an seinem romantisch-unrealistischen Bild des Islam. Sein Wunschpartner, Sultan Abdulhamid II., war kein zweiter Saladin, der sich mit ihm, als Wiedergänger des Stauferkaisers Friedrich II., in einen interreligiösen, ein politisches Bündnis absichernden „Toleranz-Diskurs“ eingelassen hätte. Als Wilhelm II. 1898 in Damaskus um die Freundschaft der Muslime warb und an die Toleranz Abdulhamids appellierte, hatte sich der islamistisch konsequent intolerante Despot gerade mit den ersten Armenier-Massakern (1894/95) als „Roter Sultan“ ins Buch der Geschichte eingetragen.

Sabine Mangold-Will (Hrsg.): Wilhelm II. Archäologie und Politik um 1900. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017, broschiert, 140 Seiten, Abbildungen, 39 Euro