© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Auschwitz als neue europäische Hauptstadt?
Literatur: Der österreichische Schriftsteller und Buchpreisträger Robert Menasse legt den Figuren seines Romans „Die Hauptstadt“ eigene politische Gedanken in den Mund
Markus Brandstetter

In Brüssel läuft ein Schwein durch die Stadt und bringt den Verkehr, die Leute und sogar die Polizei durcheinander. Überhaupt geht es in diesem Roman viel um Schweine. EU-Schweine natürlich, denn Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“ handelt von Brüssel, der jetzigen Hauptstadt der EU, und dem langweiligen, kleingeistigen und ein bißchen sinnlosen Leben der EU-Bürokraten. In der vergangenen Woche erhielt der 63jährige österreichische Schriftsteller dafür den mit 25.000 dotierten Deutschen Buchpreis. Die Auszeichnung erhebt den Anspruch, den wichtigsten deutschsprachigen Roman des Jahres küren zu wollen. Nun ja.

Ebenfalls mit Schweinen zu tun hat ein gewisser Florian Susman, Österreichs größter Schweinezüchter, der über seinen Bruder Martin Susman, der in Brüssel als EU-Referent arbeitet, die Schweinepolitik der EU maßgeblich zu seinen eigenen Gunsten beeinflussen will. Und mit diesem Martin Susman sind wir endlich bei einer der Hauptfiguren von Menasses EU-Roman angelangt und der ein bißchen sehr dünnen Handlung, die erst so ganz allmählich in Schwung kommt. Alles beginnt damit, daß eine gewisse Fenia Xenopoulou, ihres Zeichens Beamtin in der Generaldirektion Kultur der EU, Martin Susman damit beauftragt, eine PR-Kampagne zu entwerfen, mit der das angekratzte Image der EU wieder aufpoliert werden soll.

Tatsächlich hat Martin auch gleich einen Einfall. Der lautet so: Die eigentlich verbindende Idee hinter der EU ist – Auschwitz. Warum? Nun, sagt Susman, weil die Gefangenen in Auschwitz aus allen Ländern der heutigen EU kamen und alle dieselbe Häftlingskleidung trugen. In Auschwitz wurde, so heißt es weiter im Roman, erstmals in Europa das Nationalgefühl überwunden, eine noble Idee, die später in der Gründung der EU verwirklicht und in eine politische Form gegossen wurde. Die EU-Bürokraten seien, rhapsodiert Susman fröhlich weiter, die Hüter der Menschenrechte und die Bewahrer der Moral der Geschichte. Und weil die EU im Endeffekt mit Auschwitz begonnen habe, müßten nun die letzten Auschwitz-Überlebenden bei dem von Fenia Xenopoulou zu planenden EU-Jubiläum alle auftreten.

Vom Sinn der EU zutiefst überzeugt 

So weit, so langweilig. Jetzt stellt sich aber heraus, daß es auf der Welt nur noch sechzehn Auschwitz-Überlebende gibt und die Suche nach ihnen auch noch ziemlich schwierig ist, weil sie in keiner zentralen Datenbank erfaßt sind. Deshalb wird in Brüssel nun beschlossen, daß bei der bevorstehenden EU-Jubiläumsfeier ein einziger Auschwitz-Überlebender als Symbolfigur für alle anderen dienen muß. Diese Symbolfigur ist David de Vriend, der in einem Brüsseler Altersheim lebt und in der Demenz verdämmert, aus der ihn immer wieder die Erinnerung an Auschwitz und die Gruppe der anderen Auschwitz-Überlebenden reißt. Doch noch bevor ihn die EU-Bürokraten aufspüren und als Star ihrer Jubelfeier verpflichten können, kommt er bei einem Bombenanschlag mitten in Brüssel ums Leben.

Parallel zu dieser Haupthandlung entwickelt Robert Menasse noch eine Anzahl von Nebenhandlungen, deren wichtigste sich um den österreichischen Volkswirt Alois Erhart dreht, der in einer Rede in einem der vielen EU-Hinterzimmer seinen Traum von der EU der Zukunft entwickelt. Seitenlang wird nun ausgeführt, daß die EU der Zukunft ein großer europäischer Gemeinschaftsstaat ist, weil konkurrierende Nationalstaaten keine Union darstellen, auch wenn sie einen gemeinsamen Markt haben.

Das absolute Schmankerl in Erharts großer Rede aber ist seine Forderung, daß die EU eine neue Hauptstadt bauen müsse. Und das könne nicht Brüssel sein, sondern – Auschwitz. Warum Auschwitz, fragt der Leser ein bißchen perplex? Ganz einfach, antwortet der Roman: weil Auschwitz der europäische Ort sei, der nie vergessen werden könne und in dessen geographische DNA die Mahnung „Nie wieder!“ gewissermaßen eingeschweißt sei.

Robert Menasse ist selbstverständlich zutiefst vom Sinn und der Sendung der EU überzeugt, was vermutlich einer der Gründe für diese an den Haaren herbeigezogene Handlung ist. Nun kann man ja durchaus einen politischen Roman schreiben – Flauberts „Éducation Sentimentale“ bietet über weite Strecken ein Abbild der französischen Politik vor und während der Revolution von 1848, Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ist eine schöne Satire auf die Gesellschaft der k.u.k.-Monarchie, und die Reihe großer politischer Autoren des 20. Jahrhunderts reicht von Max Frisch über Heinrich Böll bis zu Günter Grass.

Aber was der Autor eines Polit-Romans nicht tun sollte, ist das: seinen Figuren seitenlange papierene Tiraden in den Mund legen, in denen er seine eigenen politischen Ansichten abstrus, übereifrig und weitschweifig breittritt. Deshalb sind Menasses Figuren keine psychologisch überzeugenden Charaktere, die den Gang der Handlung formen und sich mit ihm verändern, sondern lediglich Sprachrohre für die politischen Ansichten ihres Schöpfers.

Zudem stellt sich die Frage, ob seine politischen Ansichten wirklich so interessant, neuartig und intelligent sind, wie er selbst meint. Damit hatte schon der große Max Frisch seine Schwierigkeiten, der in seinen Romanen über lauwarme SPD-Meinungen und sozialistische Binsenweisheiten nicht hinauskommt. Menasse ergeht es da nicht besser. Er entnimmt seine politischen Ansichten der negativen Dialektik von Theodor W. Adorno, die flach und primitiv besagt: Die Grundlage aller Ethik nach dem Zweiten Weltkrieg ist Auschwitz, denn in Auschwitz verkörpert sich das summum malum der Menschheit, weshalb das genaue Gegenteil davon, das summum bonum, der Endzweck allen moralischen Handelns sei.

Halbherzige Satire auf die EU-Bürokratie  

So etwas kann man meinen, aber es gibt keinen guten Kern für einen Roman ab und schon gar keinen Entwurf für einen überzeugenden Plot. Gute Romane leben von einer fesselnden Handlung, psychologisch überzeugenden Figuren und funkelnden Dialogen – aber Menasse kann mit nichts von alldem aufwarten. Eine wirkliche Handlung gibt es gar nicht, nur aneinandergereihte Szenen; seine Dialoge lesen sich wie Gespräche im Altersheim, und seine Figuren sind keine Menschen, sondern erratische Typen wie im Jesuiten-Drama des Barock, die wie Aufziehfiguren aus einer überschaubaren menschlichen Menagerie immer nur das tun, was ihnen in der Kindheit eingepflanzt worden ist.

Diese ganzen Defizite können durch Menasses halbherzige Versuche zur Satire auf die EU-Bürokratie, seine streckenweise präzise Sprache und sein Talent zur Beschreibung leider nicht ausgeglichen werden.

Robert Menasse: Die Hauptstadt. Suhrkamp, Berlin 2017, gebunden, 458 Seiten, 24 Euro