© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Pankraz,
Ramapithecus und die Kraft des Wassers

Das Meer als Heimat besangen berühmte „La Paloma“-Interpreten wie Hans Albers, Freddy Quinn oder Heino, aber es war nicht ganz ernst gemeint. Sehr ernst gemeint ist indessen die Theorie des britischen Anthropologen Alister Hardy über die „aquatische Menschwerdung“, die mittlerweile von einer ganzen Biologenschule verteidigt und ausgebaut wird. Die wahre Heimat, die wahre Geburtsregion des Ur-Menschen, so die zentrale These der „Aquatiker“, lag nicht in afrikanischen Trockensavannen, sondern – im Wasser.

„The Aquatic Ape“ („Der Wasseraffe“) heißt die „Bibel“ der Aquatiker; geschrieben hat sie Elaine Morgan. Der Kern der Theorie besagt folgendes: Die frühen Baumprimaten vom Schlage des Ramapithecus vor etwa zehn Millionen Jahren gingen nicht in die Savanne, um dort aufrechten Gang, Werkzeuggebrauch und Sprache zu lernen, sondern ins Wasser. Sie wurden dazu gezwungen, als im Pliozän in weite Teile Afrikas das Meer einbrach, gerade in jene Gebiete, in denen Ramapithecus zu Hause war. Im Wasser also, nicht in der Steppe, vollzogen sich die entscheidenden Stationen der Menschwerdung.

Der Vormensch war dieser Version zufolge kein Steppenschimpanse, sondern eine Art Superdelphin, und als solcher bildete er all die Merkmale aus, die später den Menschen kennzeichneten: Haarlosigkeit, Unterhautfettgewebe, das elastische Rückgrat der Seelöwen und Pinguine, das aufrechten Gang ermöglicht, die Verständigung durch geregelte Lautfolgen. Später, etwa drei Millionen Jahre vor der Zeitrechnung, als das Wasser wieder abfloß, kletterte er zurück an Land und war nun zum Homo habilis geworden, der sich den übrigen Australopithecinen als haushoch überlegen erwies. Dem Fortschritt zum Homo sapiens stand gewissermaßen nichts mehr im Wege.


Hardys und Morgans große Verlegenheit ist, daß es bisher nicht die geringsten paläontologischen Funde gibt, die ihre Feststellungen stützen könnten. Zwischen dem Ramapithecus und den von den Leakeys ausgegrabenen Ur- oder Protomenschen der Gattung Australopithecus klafft, was menschenähnliche Primaten betrifft, eine Riesenlücke, die auch anderen Anhtropologen sehr zu schaffen macht.

Die „Aquatiker“ weisen aber darauf hin, daß bisher noch jede Säugetierordnung eine Art hatte, die ins Wasser ging: Insektenfresser wurden zu Walen und Delphinen, Urhunde wurden zu Seehunden und Seebären, Elefanten zu Seejungfern, Schweine zu Nilpferden, Ameisenigel zu Schnabeltieren, Riesenmäuse zu Bibern, Marder zu Fischottern. Warum sollte ein solches Ins-Wasser-Gehen nicht auch einmal den Affen widerfahren?

Morgan vergleicht in ihrem Buch Punkt für Punkt die Wasseraffentheorie mit der Savannentheorie, und letztere sieht dabei gar nicht gut aus. Nie und nimmer würde ein Affe unter Savannenbedingungen das Haarkleid verlieren, nie und nimmer Unterhautfett ausbilden. Bei einem Wassertier hingegen sei dergleichen vollkommen natürlich. Kein Savannentier könne übrigens wirklich Tränen vergießen, während Wassertiere weinten wie Achilles um Briseis, wenn auch nur der Salzabfuhr wegen. 

Was die berühmte aufrechte Haltung betreffe, konstatiert Frau Morgan, so könne sie ebenso gut das Resultat von Wassertreten gewesen sein wie von sicherndem Spähen über Steppengras. Schließlich „spähen“ auch Löwen und Tiger, ohne daß die deshalb zum aufrechten Gang übergewechselt seien. Und ganz besonders überzeugend und wissenschaftlich verwertbar seien nach Morgans Meinung die sexuellen Argumente, die für die Theorie des Wasseraffen ins Spiel gebracht werden.

Warum ist die „normale“ Stellung des Menschen beim Sexualverkehr die sogenannte „Missionarsstellung“, die keine andere Primatenart praktiziert? So etwas läßt sich eben laut Frau Morgan nur im Wasser lernen, und tatsächlich kopulieren auch Wale und Delphine, Seeotter, Manatis und Biber Bauch an Bauch. Menschenbabys können ohne weiteres unter Wasser geboren werden, wie russische Mediziner nachgewiesen haben. Der Mensch ist von Natur aus ein Schwimmer und vergißt das erst im Sozialisationsprozeß, so daß er später zum Schwimmlehrer gehen muß.


Pankraz will nicht leugnen, daß er mit Wohlgefallen auf die Theorie vom Wasseraffen schaut. Er wünscht ihr, daß sie ihre Thesen in absehbarer Zeit wird paläontologisch untermauern können, denn im Grunde ist die Vorstellung höchst angenehm, daß unsere Vorfahren – statt krummbeinige, schwitzende, humorlose Savannenläufer – elegante, spielerische, kühle „Kinder des Ozeans“ waren, daß ihre ersten Werkzeuge nicht aus groben Knüppeln bestanden, die sie Panthern kreischend über den Schädel hauten, sondern schöne glatte Steine fürs Austernknacken. 

So manche alte Kulturpraxis der Menschheit fände ihre historische Erklärung in der Theorie vom Wasseraffen, so die zahlreichen früh bezeugten Taufen und Waschungen, die als rituelle Erinnerung an eine Vergangenheit im Wasser zu deuten wären, so die ebenfalls schon aus grauer Frühzeit überlieferte brüderliche Verbundenheit, die der Mensch dem Delphin entgegenbringt.

Auch der Delphin  scheint ja dem Menschen gegenüber brüderliche Gefühle zu hegen, so als erinnere er sich an gemeinsame Spiele und Tänze. Der Delphin ist das Tier mit dem relativ größten Gehirnvolumen und der differenziertesten Tiersprache. Mit ihm zu konkurrieren hätte den Wasseraffen zweifellos zu Höchstleistungen angespornt.

Frau Morgan deutet an, daß es durchaus das mehrmalige „rein ins Wasser, raus aus dem Wasser“ gewesen sein könne, das dem Menschen den entscheidenden zerebralen Vorsprung vor sämtlichen anderen Land- und Wassertieren verschaffte und zur Ausbildung der Großhirnrinde führte. Das ist zweifellos eine wichtige Perspektive, der man privilegierte Aufmerksamkeit widmen sollte. 

Jedenfalls ist die Kunde vom Wasseraffen, wenn schon (noch) kein wissenschaftlich voll verifizierbares Theorem, so jedenfalls ein schöner Beitrag zur aktuellen Diskussion über das, was Heimat für uns bedeuten kann.