© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Böser Wille und Ignoranz
Die Linke und ihr Problem mit der Freiheit: Die Adepten Marcuses grenzen so lange weiter aus, bis sie auf Widerstand treffen
Karlheinz Weissmann

Die Buchmesse ist vorbei. Die Auseinandersetzung um die Frage, wie sich die konformistische Mehrheit der nonkonformistischen Minderheit – den „rechten Verlagen“ – gegenüber verhalten hat, ist es nicht. Die, die Repression verlangten und die inquisitorisch Fragenden, die wissen wollten, ob man denn „jeder Meinung eine Bühne“ bieten dürfe (Jürgen Kaube in der FAZ), sind allerdings in der Defensive. Es wächst die Zahl der Nachdenklichen, bei denen „Meinungsfreiheit … auch für unsympathische Meinungen“ (Ernst Piper in der Welt) gilt, und neuerdings gibt es sogar einige – im Umfeld der „Charta 2017“ –, die der Auffassung sind, Meinungsfreiheit schließe grundsätzlich alle Meinungen ein.

Reden darf nur, wer für den „Fortschritt“ ist

Daß es tatsächlich nötig ist, das ins Gedächtnis zu rufen, hat historische Gründe. Denn seit fünfzig Jahren ist das Spektrum des Meinbaren in Deutschland immer weiter eingeschränkt worden, auf gesetzlichem Wege, vor allem aber auf außergesetzlichem. Die treibende Kraft dahinter waren und sind jene linken „Meinungsmacher“ (Helmut Schelsky), die nur ihre eigene Meinung verstehen und gelten lassen.

Das hat nicht bloß mit bösem Willen und Ignoranz zu tun, sondern mit einer Ideologie, die seit jeher „keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ (Louis Antoine Léon de Saint-Just) duldet und sich das Recht anmaßt, solche „Feinde der Freiheit“ zu definieren. Das Kriterium der Feindbestimmung ist aus linker Sicht leicht gefunden: der „menschliche Fortschritt“. Wer dem im Wege steht, kann nicht auf Schonung rechnen.

So deutlich spricht das heute allerdings kaum jemand aus. Der Sound ist weicher geworden. Man redet lieber über „Spalter“ und „Angstmacher“, die den „Konsens“ und das „Zusammenleben“ der Guten und Bunten gefährden und vor denen man die „Offene“ oder „Zivilgesellschaft“ schützen muß.

Die Überzeugung, daß diese soziale Formation das Ziel oder doch die Vorstufe des Ziels der Geschichte sei, ist eine Art Schwundstufe des alten Glaubens an den „Progreß“ und die „Realutopie“: eine Welt ohne Zwang, ohne Grenzen, ohne Ausbeutung, ohne Herrschaft. Ihr wichtigster Prophet war der Philosoph Herbert Marcuse, einer der Köpfe der Frankfurter Schule und geistiger Vater der amerikanischen wie der europäischen, insbesondere der westdeutschen, „Neuen Linken“. Deren Köpfe füllte er mit seiner Idee der „Großen Weigerung“ gegenüber dem kapitalistischen „System“ und der Überzeugung, daß die von der „formalen Demokratie“ gewährte Toleranz eine „repressive“ und deren Freiheit nichtig sei, da sie nur besonders perfide Herrschaftsmechanismen „verschleiere“.

Was dagegen zu tun sei, hielt Marcuse in der Schwebe. Er schwadronierte lediglich vom Zukunftsbündnis der Außenseiter und Minderheiten und farbigen Völker. In jedem Fall war er überzeugt, daß das bessere Morgen nur gewaltsam zu erreichen sei. Man werde Machtmittel einsetzen müssen, um den Fortschritt anzutreiben. Schon bevor die Revolution siege, sollte man den Gegner unschädlich machen, indem man ihm das Maul stopfe. Pressefreiheit etwa könne „nicht absolut und bedingungslos für jeden und für jede Sache“ gewährt werden. „Reaktionäre“ oder „faschistische“ Auffassungen fielen unter die Zensur, und selbstverständlich sei auch, „daß die Ausübung bürgerlicher Rechte durch die, die sie nicht haben, voraussetzt, daß die bürgerlichen Rechte jenen entzogen werden, die ihre Ausübung verhindern“.

Was in der Praxis kaum anderes bedeuten konnte, als daß jedem, der Marcuse und seinen Jüngern Widerstand leistete, das Recht auf freie Meinungsäußerung entzogen würde, bevor man zur Errichtung der „Erziehungsdiktatur“ kam, die jeden Abweichler, Klassenfeind, Konterrevolutionär guten Gewissens einer Gehirnwäsche unterziehen oder zum Verstummen bringen durfte.

Das totalitäre Moment in dieser Art der Argumentation hat Marcuse nie zugegeben. Aber darin lag die Ursache für die zunehmende Brutalität, mit der die Linke seit ’68 gegen Professoren, Rektoren, Polizisten, dann gegen jeden vorging, der auch nur Bedenken äußerte. Das war außerdem die Rechtfertigung für eine spezifische Art von „Meinungsterror“, der zuerst nur Redner durch lauter werdendes Zischen oder rhythmisches Klatschen zum Verstummen brachte, dann „Liberale aus dem Saale!“ skandierte, die Opposition in der Vollversammlung niederbrüllte oder körperlich attackierte, den Genossen zur „Selbstkritik“ vor der Gruppe zwang, die Polizei mit Steinen und Molotowcocktails angriff und zuletzt die „Schweine“ wie jeden Verdächtigen kalten Herzens liquidierte.

Fortsetzung der üblen     neomarxistischen Tradition

Das, was heute bei jeder Parteiveranstaltung der AfD, bei jedem Vortrag eines Konservativen oder der Präsentation rechter Literatur droht, ist nichts als die Fortsetzung dieser üblen Tradition. Deren Wirkmacht liegt aber nicht in der Stärke der Linken begründet – die ist nur eine lautstarke Minderheit –, sondern in der Feigheit der Mitte, die sie fürchtet oder bewundert, und in der Schwäche ihrer Gegner. Das ist der Grund, warum es in diesem Land keine Meinungsfreiheit gibt, die den Namen verdient. Das ist ein Zustand, der geändert werden muß.





Charta 2017: Petition zur Buchmesse

Nach den Vorkommnissen auf der Frankfurter Buchmesse und dem „zündelnden“ Aufruf des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels protestieren Buchhändler, Autoren und Publizisten mit einer Online-Petition gegen „die sich häufenden Angriffe auf das hohe Gut der Meinungsfreiheit“. Unter dem Begriff der Toleranz werde Intoleranz gelebt und zum scheinbaren Schutz der Demokratie die Meinungsfreiheit ausgehöhlt, heißt es in dem Appell. Die Initiatoren wehren sich „entschieden gegen jede ideologische Einflußnahme, mit der die Freiheit der Kunst beschnitten wird“.Zu den Erstunterzeichnern der Charta 2017 gehören unter anderem die Publizisten Jörg Friedrich, Michael Klonovsky, Matthias Matussek, Ulrich Schacht, Heimo Schwilk, Cora Stephan, Eberhard Straub und der Schriftsteller Uwe Tellkamp. (JF)

 www.openpetition.de/