© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

„Ich hab’ Pfefferspray dabei“
Reportage: Illegale Zeltlager, Raub, Gewalt und sogar Mord / Die Zustände im Berliner Tiergarten können sogar grüne Politiker nicht mehr tolerieren
Björn Harms

Die warme Herbstsonne schenkt Berlin einen goldenen Oktobertag. Vor der Polizeistation am Bahnhof Zoologischer Garten unterhalten sich zwei junge Beamte in Uniform angeregt bei einer Zigarette. Wenige Meter neben ihnen, direkt an der Wand der Polizeiwache, liegt eine Gruppe von Obdachlosen und schläft. 

Drei spanisch sprechende Touristen weichen der Gruppe verunsichert aus und biegen in den Schleusenweg ein, den Zugang zum Berliner Tiergarten. Ihre Blicke fallen am Wegesrand auf ein paar zurechtgemachte Blumensträuße, Kondolenzkarten und zwei Fotos einer im Kulturbetrieb prominenten Frau. Sie stehen dort in Erinnerung an die im September ermordete Kastellanin der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Susanne Fontaine. Die Kunsthistorikerin war gerade auf dem Weg zur S-Bahn, als sie nur wenige hundert Meter von der Polizeistation am Zoo entfernt von einem 18 Jahre alten Tschetschenen überfallen und erwürgt wurde. Tage später fanden Passanten ihre Leiche im Gebüsch. Der Täter wurde in Polen festgenommen.

Spätestens nach dem Mord an Susanne Fontaine war der Tiergarten nicht mehr länger nur als Ausflugsziel für Familien und Touristen bekannt, sondern auch als Hort für Gewalt, Drogen und Prostitution. Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), veröffentlichte einen Hilferuf und schlug Alarm. Die Behörden seien überfordert mit der Anzahl der Obdachlosen im Park. Ein besonders gewalttätiger Teil von ihnen stamme aus osteuropäischen Ländern. „Diese Gruppe reagiert aggressiv auf alles, was in ihre Nähe kommt, hier gelten zudem nicht einmal hygienische Mindeststandards“, beklagte von Dassel. Aus dem Kreis der Osteuropäer kommen wohl auch die Leute, die junge Schwäne im Tiergarten erst getötet, dann gegrillt und anschließend verspeist haben sollen. Mit einer für einen Grünen-Politiker ungewöhnlichen Härte forderte der Bezirksbürgermeister die konsequente Prüfung von Abschiebungen.

„Ändern wird sich hier doch eh wieder nichts“, knurrt ein älterer Mann, der fassungslos auf das Foto von Susanne Fontaine starrt. „Was für ein Schwein.“ Ob er Angst habe, wenn er durch den Park laufe? Nein, Sorgen mache er sich vor allem um die Zukunft der Gesellschaft. Persönlich fürchte er sich nicht. „Ich bin Berliner. Wenn ich in bestimmten Gegenden bin, hab ich eh immer mein Pfefferspray dabei“, nuschelt er grimmig und bekräftigt seine Worte mit einem kurzen Klopfen auf die rechte Brusttasche. Dort zeichnet sich ein zylinderähnlicher Gegenstand ab. Tagsüber sei der Park relativ harmlos, erklärt er. „Aber nachts laufen hier schon sonderbare Gestalten herum.“

Am heutigen Nachmittag ist von diesem Schreckensbild noch nicht viel zu sehen. In der über 200 Hektar großen Parkanlage erkennt man nur vereinzelt Obdachlose, vornehmlich Deutsche. Die Problemgruppe scheint durch die Berichterstattung verschreckt zu sein. Stattdessen laufen Medienvertreter im Park herum, um Äußerungen von Spaziergängern einzufangen. 

In unmittelbarer Nähe eines Kamerateams stehen zwei schlaksige Mittfünfziger neben ihren Fahrrädern und beobachten die Szenerie eher gelangweilt. „Es geht nicht nur um den Tiergarten“, sagt einer der beiden. Er sei in den achtziger Jahren aus dem süddeutschen Raum nach Berlin gezogen. „Die Lebensqualität im innerstädtischen Bereich ist generell gesunken.“ Sein Freund neben ihm nickt zustimmend. „Die obdachlosen Besoffskis im Park sind zwar nervtötend, das Problem liegt jedoch ganz woanders. Der Fisch stinkt am Kopf.“ Der Stimme merkt man an, daß seine Wut wächst. In einem Monolog rechnet er mit dem gesamten Berliner Senat ab. „Für uns Anwohner ist die fortschreitende Ghettoisierung jedenfalls eine Zumutung“, beendet er seinen Vortrag. Anschließend verabschieden sich die beiden in Richtung S-Bahnhof. 

Das Bild, das die Senatsverwaltung dieser Tage abgibt, entkräftet die Vorwürfe der beiden Männer kaum. Unmittelbar nach von Dassels Hilferuf hatte sie eine verstärkte Polizeipräsenz im gesamten Berliner Tiergarten versprochen. Bei der Polizei wußte einen Tag später niemand etwas davon. Der Senat sah sich gezwungen zurückzurudern und sprach von Mißverständnissen. „Zuständig ist in allererster Linie der Bezirk“, verdeutlicht ein Sprecher der Senatsverwaltung gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Man werde „zeitnah“ Lösungen präsentieren. 

Ein Behördenwirrwarr, von dem man in Neukölln unlängst genug hatte. Um seine Probleme mit wild kampierenden Osteuropäern zu lösen, organisierte der Bezirk in Zusammenarbeit mit der Caritas freiwillige Rückreisen in die Heimatländer per Bus. Die Kosten übernahm der Bezirk in Absprache mit dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten. Der Alleingang von Neukölln scheint ein länger existierendes Problem der Hauptstadt zu verdeutlichen. Dies hat auch mit der Stadtgeschichte Berlins zu tun. Erst im Zuge der Industrialisierung begann die Stadt als Ganzes zu wachsen – durch einen Zusammenschluß von zuvor selbständigen Orten wie Neukölln, Wedding oder Schöneberg. So funktioniert die Hauptstadt bis heute. Seine Geschicke werden von weitgehend unabhängigen Bezirksverwaltungen bestimmt, jede von ihnen mit großen Befugnissen und eigenen Interessen. Eine zusammengewürfelte Großstadt wurstelt vor sich hin, wo eine Strukturreform zwingend notwendig wäre. 

Anlaufpunkt für die        Berliner Stricherszene

Im Tiergarten geht die Sonne mittlerweile unter. Der Park erwacht kurzzeitig noch einmal zum Leben. Jogger schlängeln sich durch den Bremer Weg, der im Zuge der gehäuften Medienberichte zweifelhafte Berühmtheit erlangt hatte, da sich hier ein Schwerpunkt der Kriminalität entwickelte. Laut Statistik wurden im Umfeld des Weges von Januar bis Mitte Juni dieses Jahres 46 Straftaten registriert – doppelt so viele wie im gesamten vergangenen Jahr. 

Zwischen den Gebüschen tauchen vereinzelt Männer mit dunklem Teint und abgewetzter Kleidung auf, die jeden nervös mustern. Es sind junge Flüchtlinge, die sich im Tiergarten prostituieren. Ihr Blick ist leer, sonderlich aggressiv wirken sie jedoch nicht. Im Jahr 2015 hatte der Verein „Hilfe-für-Jungs“ im Tiergarten Kontakt zu 50 männlichen Prostituierten, im folgenden Jahr schnellte die Zahl auf 382 hoch. Mittlerweile ist der Ort zum Anlaufpunkt für die Berliner Stricherszene geworden. 

Mit der späteren Uhrzeit steigt auch die Zahl der Obdachlosen. Kurz nach Sonnenuntergang kramen einige von ihnen in Mülltonnen herum, andere wiederum sitzen von Drogen betäubt auf den Parkbänken. Dann ist die Sonne endgültig verschwunden. Sofort umgibt den Park eine gespenstische, beklemmende Atmosphäre. Nur wenige Laternen beleuchten die Kieswege, immer wieder sind laute Rufe durch die Dunkelheit zu vernehmen. Die letzten Touristen verlassen den Park und tauchen ins Berliner Nachtleben ein.