© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

Ein verzerrtes Selbstbild
Schuld, Buße, Läuterung: Wie „Die Zeit“ deutsche Geschichte verkürzt
Thorsten Hinz

Für Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Zeit, stellt der Einzug der AfD in den Bundestag prinzipiell ein größeres Verhängnis dar als die Anwesenheit der Islamisten in Deutschland. Denn jene seien bloß eine „sicherheitspolitische Gefahr“, diese aber eine „hegemoniale Bedrohung“, tönt er am 28. September in seinem Leitartikel. Die „Bedrohungslage“ hätte sich am 24. September verschärft.

Hinter solchem Wahnsinn steckt eine gewisse Logik: Die rot-rot-grüne Hegemonie hat die geistig-moralischen Voraussetzungen für die Implementierung der Islamisten-Szene in Deutschland geschaffen und sorgt dafür, daß ihr Umfeld und Rekrutierungspotential sich ständig ausweitet. Insofern läßt sich nachvollziehen, daß Ulrich sie milder beurteilt als diejenigen, welche die fatale Hegemonie, für die er steht, bekämpfen.

Die Auseinandersetzung mit der AfD will er auf dem Feld der Geschichtspolitik suchen – wegen „der Rückkehr des Nationalismus“, die sich mit Alexander Gauland ankündige. Sein „Ausgangspunkt für einen neuen Patriotismus“ lautet: „Deutschland ist das einzige Land auf der Welt, dessen zentrale Geschichte von sich selbst weder von Heldentum noch von Märtyrertum handelt, sondern von Schuld, Buße, Läuterung (…). Dies aber ist kein Defizit, sondern ein eigener Ton im Konzert der Völker. In dieser Besonderheit liegt vielleicht sogar der tiefste Grund für die Erfolgsgeschichte, die dieses Land nach 1945 schreiben durfte, so unautoritär, divers, ökologisch und ökonomisch stark, wie es nun geworden ist.“

Politisches Denken versandet in Hypermoral

Schuldstolz trifft auf Größenwahn! Im Ernst: Die Begründer der bundesdeutschen „Erfolgsgeschichte“ waren keine antiautoritären Diversity-Schwätzer, sondern harte, disziplinierte Arbeiter. Was Ulrich anpreist, ist die Verkürzung der deutschen Geschichte zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus und ihre Elimination zur „Nichtgeschichte“ (Karl Heinz Bohrer). Alle früheren Kanzler haben sich gegen diesen Blödsinn verwahrt. Helmut Schmidt, der spätere Zeit-Herausgeber, sagte 1979, nach Israel wolle er nicht als „wandelnde Aktion Sühnezeichen“ reisen.

Das verdruckste Selbstbild der Nationalgeschichte, das der Zeit-Mann feiert, läßt die historischen Kraft- und politischen Entwicklungslinien außer acht, die in die Gegenwart hinein- und in der Zukunft weiterwirken. Das politische Denken versandet in einer Hypermoral, die zu irrsinnigen Konsequenzen führt wie der, daß man die Grenzen seines Landes weder schützen kann noch darf. Man setzt das Land aufs Spiel und macht sich verhaßt bei den Nachbarn, die ins Verhängnis gezogen werden.

Angela Merkel allerdings ist die erste Kanzlerin ganz nach diesem Bilde. Sie sagte am 11. November 2009 in Paris, als Frankreich seinen Sieg im Ersten Weltkrieg beging: „Wir werden nie vergessen, wie sehr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Franzosen durch Deutsche zu leiden hatten. Der schonungslose Umgang mit der eigenen Geschichte ist – davon bin ich überzeugt – die einzige Grundlage, um aus der Geschichte zu lernen und die Zukunft gestalten zu können.“

Merkels Umgang war nicht „schonungslos“, sondern geschichtsfälschend und unterwürfig. Der Anteil der französischen Revanchepolitik am Ausbruch des Ersten Weltkriegs war eher höher als der einer kopflosen deutschen Reichsleitung. Vom Versailler Vertrag, der die Grundlage für die folgenden Katastrophen legte, ganz zu schweigen.

Für „das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“, hätte Alexander Gauland sich allerdings solidere Gewährsmänner suchen sollen. Vor allem hätte er den Ersten deutlich vom Zweiten Weltkrieg abheben müssen. Angemessener als „Stolz“ wäre der „Respekt“ gewesen. Beim Abschluß des Locarno-Vertrags 1925 rief der französische Außenminister Aristide Briand seinem deutschen Amtskollegen Gustav Stresemann zu, Deutsche und Franzosen müßten sich auf den Schlachtfeldern nichts mehr beweisen, beide Völker hätten gezeigt, daß sie kämpfen könnten. Der Respekt war gegenseitig.

Zur Tragik des deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg hat der französische Staatspräsident François Mitterrand beim Staatsakt am 8. Mai 1995 in Berlin das Nötige gesagt: „Ich bin nicht gekommen, um die Niederlage herauszustellen, weil ich wußte, welche Stärken das deutsche Volk hat, welche Tugenden, welchen Mut, und wenig bedeutet mir seine Uniform und auch die Vorstellung in den Köpfen dieser Soldaten, die in so großer Zahl gestorben sind. Sie waren mutig. Sie nahmen den Verlust ihres Lebens hin. Für eine schlechte Sache, aber ihre Taten hatten damit nichts zu tun. Sie liebten ihr Vaterland. Das muß man sich klarmachen. Europa bauen wir auf, wir lieben unsere Vaterländer.“

Wer das nicht nachvollziehen kann, liebt gar nichts, weder das eigene Land noch Europa, höchstens den Vorteil, andere ungestraft diffamieren zu können und sein Auskommen in der Bewältigungsindustrie.

Die Aussage Gaulands, „diese zwölf Jahre“ würden „unsere Identität heute nicht mehr (betreffen)“, wird schon dadurch, daß er sie für nötig hielt, zum Widerspruch in sich. Der Berliner AfD-Vorsitzende Georg Pazderski hat in der Debatte im Abgeordnetenhaus am Gedenktag für die NS-Opfer ganz klare und persönliche Worte gefunden: Sein Vater war ein polnischer Zwangsarbeiter, der 17jährig aus Warschau nach Deutschland verschleppt worden war. Das Beispiel zeigt, daß die NS-Zeit sowohl auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene „ein ganz wesentlicher Teil“ (Padzerski) unseres Geschichtsverständnisses bleibt. Im Ausland ist das ohnehin der Fall, und es wäre unklug von einer Partei, das zu ignorieren.