© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Unterwegs auf der Greenwichpromenade am Tegeler See in meinem Heimatbezirk. Der Himmel ist grau, es nieselt. Ich hänge meinen Gedanken nach, als mir unvermittelt ein Hinweisschild ins Auge fällt, das ich dort zum ersten Mal wahrnehme. In weißer Schrift auf grünem Grund steht darauf: „Liebe Bürgerinnen! Liebe Bürger! An dieser Stelle dürfen Sie über das Wegwerfen von Müll und Abfall außerhalb der dafür vorgesehenen Behälter noch nicht einmal nachdenken! Der Bezirksbürgermeister“. Ein Schildbürgerstreich!, schießt es mir als erstes durch den Kopf. Wenn in deutschen Amtsstuben der Witz ausbricht, geht das ja meist nach hinten los.


Wer seine Gesinnung in Sonntagsreden ausstellt, darf sich nicht wundern, wochentags daran gemessen zu werden.


Eine Recherche ergibt, daß die Schild-Idee der Bezirksbürgermeister Frank Balzer (CDU) schon vor Jahren ausgeheckt hat. Ähnliche Schilder sollen in dem Stadtviertel auch am Schäfersee und im Freizeitpark Lübars stehen. Nun gehört Müll selbstverständlich nicht auf die Straße geworfen, nirgendwo. Behördliche Hinweisschilder, die das untersagen, gehen insoweit völlig in Ordnung, zumal die illegale Abfallentsorgung tatsächlich ein großes Problem ist. Aber staatlicherseits das (Nach-)Denken verbieten? Zu Recht empören sich Spaziergänger an der Tegeler Greenwichpromande darüber: „Die Gedankenfreiheit darf nie und ganz sicher nicht zugunsten eines gefüllten Mülleimers eingeschränkt und geopfert werden“, schreibt einer an sein Lokalblatt. Es sei unerheblich, welcher Zweck damit verfolgt werde, das Schild gehöre „umgehend entfernt“.


Jeder Literaturkundige kennt den großartigen ersten Satz aus Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Der Autor und Filmregisseur Oskar Roehler hat ihn jetzt für seinen autobiographisch gefärbten Roman „Selbstverfickung“ (Ullstein) in einer Weise paraphrasiert, die neugierig macht: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, stellte er fest, daß er nicht mehr linksliberal war. Und das war in dieser Gesellschaft schlimmer, als sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt zu haben.“ Der Roman ist laut Verlagsangaben eine „sarkastische Abrechnung mit der Sinnentleertheit der Medien- und Konsumgesellschaft“.


„Die Berühmtheit manches Zeitgenossen ist unmittelbar mit der Dummheit seiner Bewunderer verbunden.“ (Heiner Geißler, CDU-Politiker, 1930–2017)