© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

Pankraz,
Muttis Mitte und der Bauch des Adlers

Die Mitte hat wieder einmal Hochkonjunktur. Kein Tag nach der Abstrafung der beiden „Volksparteien“ bei der Bundestagswahl vergeht mehr, ohne daß uns die Bundeskanzlerin („Mutti“) oder einer ihrer Paladine mit Tremolo in der Stimme versichern, die CDU sei eine, ja die Partei der Mitte und bleibe eine Partei der Mitte, was immer auch passieren mag. Doch auch die meisten kleineren Parteien drängeln in die Mitte. Die Mitte ist geradezu zum Paradigma demokratischer Politik geworden. 

Auch die Grünen spielen das Spiel mit. Schon als sie zum ersten Mal in den Bundestag kamen, wollten sie partout nicht links sitzen, sondern in der Mitte, und am Ende saßen sie ja tatsächlich in der Mitte, gleich neben den Mannen von der CDU. Die FDP hat früher zwar ohne Mucks rechts gesessen, doch wie man hört, wird sie, nachdem sie nun wieder ins Parlament eingezogen ist, ebenfalls mit Energie einen Platz in der Mitte beanspruchen. Das Komische an der Sache ist, daß das Gerangel um den Sitzplatz in der Mitte gänzlich frei bleibt von parteipolitischer Programmatik.

Selbst wer sich rhetorisch radikal gebärdet, verharrt in der Mitte, er wird zum „Vertreter der radikalen Mitte“ oder zum „radikalen Vertreter der Mitte“, wie man spätestens aus den Verlautbarungen eines politisierenden Fernsehmoderators weiß. Keine Partei denkt daran, ihr Programm wegen der Mitte sonderlich zu modifizieren; sie behauptet statt dessen rundweg, wo sie stehe, sei eben die Mitte, Punktum. Der Begriff der Mitte wird im politischen Koordinatenkreuz dauernd hin und her geschoben, und was die Wähler auch wählen – sie wählen zu ihrem Erstaunen immer die Mitte, wie sie nach der Stimmabgabe erfahren.


Für Polithistoriker ist der Fall recht merkwürdig, weil der Begriff der Mitte in der Parlamentsgeschichte lange Zeit eine eher schmutzige Rolle gespielt hat, derer man sich schämte und der man möglichst aus dem Wege ging. Die Mitte – das waren die Feigen und Unentschlossenen, die parlamentarischen Trittbrettfahrer, denen die Demokratie im Grunde Jacke wie Hose war, weil sie sich lediglich nach der Decke streckten, die ihnen geboten wurde, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht.

Im französischen Konvent von 1789 hieß die Mitte verächtlich „Der Sumpf“, und das englische Parlament wurde so gebaut, daß es eine Mitte visuell gar nicht geben konnte; es gibt nur die Bankreihen rechts und links vom Speaker. Auch während der Weimarer Zeit löste der Gedanke, zur Mitte zu gehören, noch weitgehend horror vacui aus. Stresemanns Deutsche Volkspartei, eine makellos demokratische, strikt parlamentarische Partei, verstand sich ohne weiteres als rechts, und der SPD, auch Ebert und Scheidemann, wäre es nicht im Traum eingefallen, sich nicht als links zu bezeichnen.

Parlamentarische Demokratie galt von Anfang an als weitgefächerte Ausdifferenzierung der vorhandenen politischen Interessen und Optionen. Nie hätte jemand sein eigenes politisches Profil verwischt, nur um noch diese oder jene linke oder rechte Gruppierung für sich einzunehmen oder gar um à la Franz Josef Strauß seligen Angedenkens zu verhindern, daß neben seiner CSU je eine parlamentarisch legitimierte rechte Partei in den Bundestag kommt. Interessenvertretung war erwünscht, wurde nicht verketzert, weil man der Meinung war, daß demokratische Politik eben primär in die Öffentlichkeit, ins Parlament gehört, nicht in interne Zirkel oder Verabredungen in Hinterzimmern.

Der langanhaltende Erfolg von CDU/CSU und SPD in der Nachkriegszeit, ihr Aufstieg zu „Volksparteien“, hat diese traditionelle parlamentarische Sehweise bei vielen verdunkelt. Ein Großteil der Koalitionen wird nun bereits im parlamentarischen Vorfeld, abgeschottet von der Öffentlichkeit, ausgehandelt. Das Parlament wird zum bloßen Vollzugsorgan der Parteien und damit langweilig und uninteressant. Die Parteien sind für den Wähler nur noch eine „Black Box“.


Kungeln hinter verschlossenen Türen, das Entstehen innerparteilicher „Blöcke“ und „Lager“ erfordert in der öffentlichen Arbeit ein möglichst niedriges, verwaschenes Profil. Man wirbt nicht mehr um die klar überblickbare Klientel, sondern um eine diffuse, sich aus Umfragen und Medienkampagnen vage herausschälende „Idealfigur“, die notwendigerweise im Sumpf, in der Mitte, angesiedelt sein muß. Der Tanz der Parteien um die Mitte ist in erster Linie Ausdruck einer selbstgeschaffenen Unsicherheit.

Je größer die Unsicherheit wird, um so hektischer wird der Tanz – und um so drohender werden die Töne gegenüber denen, die nicht mittanzen wollen. Das ist auch der Grund, weshalb zur Stunde vor allem die CDU/CSU so hektisch die Mitte beschwört. Der SPD ist durch die Entstehung und Etablierung der Grünen und der Linken bereits vor längerer Zeit die Illusion abhanden gekommen, daß es nie mehr zur parlamentarischen Ausdifferenzierung neu entstehender Interessen kommen werde.

Die CDU/CSU hat dieses Erlebnis noch vor sich. Deshalb die hektischen Versuche von  Angela Merkel, neue Strömungen mit buchstäblich allen Mitteln am parlamentarischen Hochkommen zu hindern und die Dinge so darzustellen, als beginne rechts von ihr gleich der Faschismus. Dabei handelt es sich „nur“ um die Relativierung des Prinzips „Volkspartei“, und das ist weiß Gott keine demokratische Sünde, sondern Rückkehr zu dem, was Demokratie eigentlich bedeutet. 

Es ist nicht im Interesse der Demokratie, wenn Bürger, die durch die Politik der Etablierten parlamentarisch heimatlos geworden sind, bei den Wahlen nur noch zähneknirschend „das kleinere Übel“ wählen.  Wer ein bestimmtes Wählerpotential hinter sich hat und die parlamentarischen Regeln respektiert, der besitzt auch ein Recht auf Einzug ins Parlament. Der stolze Adler, der als Symbol der Demokratie groß über dem Berliner Bundestag trohnt, hat nicht nur „Mitte“, hat nicht nur Bauch, er hat bekanntlich auch Flügel.