© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

Pulverfaß Kurdistan
Unabhängigkeitsreferendum II: Über fünf Millionen Kurden waren aufgerufen, über die Loslösung der Autonomen Region vom Irak abzustimmen
Marc Zoellner

Deutlicher hätte die Warnung aus Teheran kaum ausfallen können: „Die kurdische Region ist unbestrittener Bestandteil des Irak“, verkündete Ali Akbar Velayati, Berater des Obersten Religionsführers des Iran, Ayatollah Chamenei, vergangene Woche in Hinblick auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum. „Die Islamische Republik Iran ist unerbittlich darin, daß die territoriale Integrität befreundeter Staaten, wie des Irak und Syriens, dringend erhalten werden muß.“ Es sollte der letzte Warnschuß an die Regionalregierung in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, gewesen sein. Am Wochenende folgten dem Säbelrasseln die Panzer.

93 Prozent stimmen für die Unabhängigkeit

Was war geschehen? In einem weltweit Aufsehen erregenden Urnengang hatten Ende September die Kurden des Nordirak mit gewaltiger Mehrheit von 93 Prozent für ihre Unabhägigkeit von der Zentralregierung in Bagdad gestimmt. Rund dreieinhalb Millionen Bürger der Kurdenregion waren dazu aufgerufen, an diesem Referendum teilzunehmen; ebenso wie fast zwei Millionen Kurden aus dem zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gouvernement Kirkuk. Gut 75 Prozent der Stimmberechtigten nahmen an der Wahl teil, so das quasi-amtliche, von Erbil verkündete Endergebnis, um die Loslösung der beiden Provinzen vom Rest des Irak.

Eine größere Zustimmung hätte sich Masud Barzani, Initiator des Referendums und seit 2005 Präsident der Autonomen Region, kaum träumen lassen für sein Lebensprojekt, die kurdischen Gebiete in die Unabhängigkeit zu führen. „Ihr, das kurdische Volk, habt nicht zugelassen, daß euer Wille gebrochen wird“, verkündete der 61jährige Chef der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) in seiner Fernsehansprache zum Wahlausgang. „Und nun, nach eurem Ja, welches ein Ja zur Unabhängigkeit sowie ein Nein zum Völkermord war, haben wir ein neues Stadium betreten.“

Nach einer Etappe, so Barzani, welcher über einhundert Jahre die Unterdrückung der Kurden durch ihre Nachbarvölker vorausgegangen sei und mitunter noch fortwährt: Denn noch immer sehen die Kurden sich als geteiltes Volk. Allein in der Türkei sollen diversen Schätzungen zufolge zwischen 14 und 20 Millionen Kurden leben. Ebenso wie in Syrien, der Heimat von zwei bis drei Millionen Kurden, stellen sie damit in der kleinasiatischen Republik die größte ethnische Minderheit. Ähnliches gilt für den Iran, dessen Nordwesten ein historisches Siedlungsgebiet für die heutzutage über zehn Millionen Kurden ist.

Es ist ebendieser Umstand, der erklärt, warum nicht allein Bagdad geradezu aggressiv auf das Referendum Barzanis reagiert, sondern ebenso Teheran, Damaskus und Ankara sich veranlaßt sehen, neben sämtlichen diplomatischen nun auch militärische Optionen zu ergreifen: Denn eine Unabhängigkeit der Autonomen Region Kurdistan vom Irak könnte auf dem gesamten geopolitischen Spielfeld des Nahen Ostens eine Kettenreaktion mit fatalen Folgen für die betroffenen Staaten sowie deren territorial Unversehrtheit auslösen.

Kurden in Türkei und Iran begrüßten die Abstimmung

Schon vorige Woche feierten nicht nur die Einwohner Erbils ihren Sieg; auch im Westiran – wo es 1946 eine kurzlebige kurdische „Volksrepublik Mahabad“ unter Protektion der Sowjetunion gab – und in Nordsyrien zogen Tausende Menschen, die kurdische Trikolore schwenkend, freudestrahlend durch die Straßen. Für die Regenten der jeweiligen Nationen wären weitere separatistische Bestrebungen ihrer Minderheiten – von denen neben den Kurden auch andere Völker wie die Drusen, die Turkmenen, die Assyrer sowie, speziell im Iran, die Belutschen profitieren könnten – ein Realität gewordener Alptraum.

Gleichwohl treiben Bagdad offensichtlich wirtschaftliche Interessen, eine Unabhängigkeit der kurdischen Landesteile mit allen Mitteln zu verhindern: Denn das Gouvernement Kirkuk zählt ebenso wie die Kurdengebiete zu den wichtigsten Erdöllagerstätten des Landes. „Das Referendum“, erklärte der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi, „muß annulliert und ein Dialog auf Grundlage der Verfassung eröffnet werden.“ Und nicht nur dies – auch die Ölfelder sowie die Grenzübergänge gehörten von der kurdischen Autonomieregierung zurück in die Hände Bagdads gegeben. Eine Forderung, die jedoch von Masud Barzani in der vergangenen Woche strikt zurückgewiesen wurde.

Die irakische Regierung sah sich zum Handeln veranlaßt: Am Wochenende wurde der Luftraum über Erbil gesperrt. Der Außenhandel mit dem Iran und der Türkei würde nur noch direkt über Bagdad abgewickelt, die Grenzübergänge im Norden und Osten Kurdistans für den Warenverkehr gesperrt. Und noch am Sonntag besetzten irakische Nationalgardisten, aus türkischem Gebiet vorstoßend, erste dieser Grenzposten. Doch noch weit größere Schützenhilfe darf Bagdad sich aus dem Iran erhoffen: In einer gemeinsamen Militärübung, die offiziell als Reaktion auf das Referendum bezeichnet wird, zogen beide Staaten dieser Tage Panzer- und Infanteriedivisionen an den Grenzen Kurdistans zusammen, um militärischen Druck auf Barzani auszuüben. Die neu entflammte Hoffnung der Kurden auf einen unabhängigen Staat, so das Kalkül Bagdads und Teherans, könne zur Not auch mit einem Krieg im Keim erstickt werden.

Außenvertretung von Kurdistan-Irak:  www.dfr.gov.krd

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