© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

Vertikalspannung des Menschen nach dem Tod Gottes
Peter Sloterdijk sieht in voreiligen Nachrufen auf die Religion ein Element perspektivischer Täuschung
Felix Dirsch

Peter Sloterdijk gilt schon seit Jahrzehnten als einer der deutschen Meisterdenker. Gelobt werden seine stilistischen und rhetorischen Fähigkeiten, die er sogar im Fernsehen zu später Stunde unter Beweis stellen konnte. Jüngst erregte er anläßlich seines 70. Geburtstages Aufsehen, als ihn der Spiegel interviewte und das Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe ein hochkarätig besetztes Kolloquium veranstaltete. Fast zur gleichen Zeit legte der ungemein produktive Gelehrte eine neue Sammlung von Beiträgen vor, die bereits an unterschiedlichen Stellen erschienen sind. Daß die Texte sehr verschieden sind, liegt auf der Hand. Die Spannweite reicht von der Erörterung der gegenwärtigen „Götterdämmerung“ über Versuche der Verbesserung der Menschen bis zu Versuchen, den alt-neuen Willen zum Glauben zu erklären, den man gelegentlich als „Renaissance der Religion“ umschreibt.

Sloterdijk hat sich schon mehrfach mit dem Phänomen Religion beschäftigt. Viel diskutiert wurde seine Untersuchung „Du mußt dein Leben ändern“. Sie intendiert, religiöse Praktiken als athletische Übungen zu deuten. Es besteht kein Zweifel, daß der frühere Rektor der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe einen pointiert religionskritischen Standpunkt einnimmt. Schon der Titel „Nach Gott“ verweist in wohlbestimmter Hinsicht auf den großen Vorläufer Friedrich Nietzsche, der sich im klaren darüber war, daß die Nachwirkungen der Transzendenz, die er für tot erklärt hat, enorm sein würden. 

Noch immer ist nicht absehbar, was die prominente Leerstelle für Konsequenzen zeitigt: Werden wir alle Barbaren, wie es die schrecklichen Folgen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert nahelegen? Wohl nicht. Leben wir besser ohne Gott, wenn wir mehr Liebe zum Irdischen an den Tag legen, wie Atheisten vom Schlage des Evolutionsbiologen Richard Dawkins behaupten oder schlechter, wie jene sagen, die der Verlust ewiger Werte erschaudern läßt? Eine letzte Antwort darf man von den Gedankensplittern des geistreichen Wort-akrobaten nicht erwarten, der auch teilweise heterodoxe Seitenströmungen des Christentums wie die Gnosis und die Mystik nicht ausspart.

Schon im 19. Jahrhundert hat die Religionskritik einen Epochenwandel vollzogen. Deren Vertreter wollten einleuchtend darlegen, warum dem Glauben ein Nachleben zuteil wird. Er hat sich zur Verwunderung mancher Intellektueller geweigert, sich im aufgeklärten und postaufgeklärten Zeitalter zu verabschieden – trotz der Irrationalitäten, die er angeblich mitschleppt. Eifriges Nachdenken setzte ob seiner fortdauernden Präsenz ein. Für Feuerbach projizierte der Mensch Allmächtigkeit, die die Kreatur schmerzlich vermißt. Marx sah in der Religion den Seufzer der geknechteten Abgehängten. Freud hingegen hob hervor, inwiefern der göttliche Vater auf der psychischen Ebene den biologischen repräsentiert.

Sloterdijks Zugang reiht sich in diese Versuche ein. Er versteht Religionen als „psychosemantische Institutionen“, die „auf die Verarbeitung von Integritätsstörungen spezialisiert sind“. Gemeint ist damit die sinnstiftende Verarbeitung von Daseinskontingenzen, besonders des Todes. Vor dem Hintergrund einer solchen Annäherung ist es nachzuvollziehen, die Geburt wenigstens der monotheistischen Religionen aus dem Geist manisch-apokalyptischer Erregungszustände ihrer Stifter zu plausibilisieren. Bisher ist es insbesondere der Moderne gelungen, viele Daseinsrisiken einzuhegen. Möglichkeiten der Vorsorge geben Absicherungen gegen Eintritt eines Unglücks, sei es im Alter, im Krankheits- und Arbeitslosenfall oder sonstiger Unabwägbarkeiten. Gegen den Tod ist jedoch bisher kein Kraut gewachsen, obwohl etliche Transhumanisten die Unsterblichkeit als bevorstehend verkünden. Vielleicht erklärt das, warum religiöse Einrichtungen, trotz einigen Bedeutungsverlusts, auch in der westlichen Welt noch einigermaßen intakt sind.

Weitere Auseinandersetzung mit überweltlichen Mächten

Sloterdijk blickt aber nicht nur auf die Anfänge der monotheistischen Religionen und ihre bleibenden Wirkungen, die keineswegs verschwinden; vielmehr betrachtet er das Erbe des Christentums, das in grundlegender Weise in den beiden Testamenten niedergeschrieben ist, als ergänzungsbedürftig. Es braucht ein Neueres Testament, das nicht nur einen Kommentar zum Neuen darstellt, dessen Schriften vor fast 2.000 Jahren verfaßt wurden, sondern darüber hinausgeht. Sloterdijk umreißt den Inhalt dieses fiktiven Buches, das die Archive all dessen zu umfassen hat, das die Menschheit nicht vergessen darf, will sie weiterhin ein bestimmtes zivilisatorisches Niveau aufrechterhalten.

Die vorgelegten Texte offenbaren einen verhaltenen Optimismus: Die „belastende vertikale Beobachtung unter dem Auge Gottes“ sei passé, aber das „massenhafte Streben nach horizontaler Aufmerksamkeit“ bedeute für unseren Körper einen hohen narzißtischen Streß. Diese Herausforderung für den Zeitgenossen bleibt ein wichtiges Einfallstor für die weitere Auseinandersetzung mit überweltlichen Mächten, deren Geschichte angesichts des rapiden Vordringens künstlicher Intelligenzen in ein neues Stadium eingetreten ist. Das Ringen um „Resonanz-Stabilisatoren des Daseins“ jenseits der Nichtigkeit der Existenz geht also weiter.

Peter Sloterdijk: Nach Gott. Glaubens- und Unglaubensversuche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, gebunden, 362 Seiten, 28 Euro