© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

„Dinge sind nicht wichtig“
Vermächtnis: Seit 25 Jahren lebt die schlesische Adlige Melitta Sallai wieder im einstigen Schloß ihrer Familie / Am Montag wird sie neunzig
Paul Leonhard

Unsere Mutter ist schuld.“ Diesen Satz sagt Melitta Sallai jedem, der sie auf Schloß Muhrau in Schlesien besucht. Die Mutter, Herta von Wietersheim-Kramsta, habe die Kinder immer wieder beschworen, heimzukehren und das elterliche Gut zu erhalten. Auch wenn dieses seit dem verlorenen Krieg in Polen liegt.

Ohne jenes preußische Verantwortungsbewußtein für Geschichte und Kultur, auch für scheinbar Verlorenes, Verantwortung zu tragen, wäre der zwischen Görlitz und Breslau gelegene Herrensitz heute wohl eine romantische Ruine, gebe es keinen Kindergarten und kein Bildungszentrum, keine deutsch-polnischen Begegnungen.

Von der Terrasse des im Stil des Neoklassizismus erbauten stattlichen Gebäudes bietet sich dem Besucher ein schöner Blick auf den gepflegten historischen Park, auf den großen Teich mit einer kleinen baumbewachsenen Insel, auf die verschlungenen Spazierwege. Die Bäume haben Herbstfärbung angenommen. Ein verwunschenes Idyll im niederschlesischen Dorf Muhrau nahe Striegau, das seit 1945 Morawa heißt und etwa 200 Einwohner hat.

Die 89jährige Melitta Sallai genießt diesen Ausblick. Hier tollte sie als Kind und Jugendliche mit ihren Geschwistern und den Kindern der Nachbargüter herum. Hier ist sie seit mehr als einem Vierteljahrhundert wieder zu Hause. Ihr ist etwas geglückt, was nur wenige deutsche Schlesier gewagt haben und einer noch geringeren Zahl gelungen ist: in die alte Heimat zurückzukehren und von den neu Angesiedelten aufgenommen zu werden.

Die Zeiten, in denen sich die Menschen abwandten, Kinder gar „Heil Hitler“ riefen, wenn sie ins Dorf Milch holen ging, sind längst vorbei. Heute sagen Mädchen und Jungen brav „Dzien dobry“ oder sogar in deutscher Sprache „Guten Tag“. Einige deuten einen Knicks oder eine Verbeugung an. Heute gibt es keine Beerdigung, keine Erstkommunion mehr, zu der sie nicht ins Dorf eingeladen wird. „Es freut mich, daß das so gewachsen ist“, sagt Melitta Sallai.

Einfach war dieser Prozeß nicht. Begonnen hat er Anfang der 1980er Jahre. Der Mutter hatte die Sehnsucht nach dem einstigen Familienbesitz und die Neugier, was aus diesem geworden ist, keine Ruhe gelassen. Während ihr Mann mit diesem Kapitel abgeschlossen hatte und Schlesien nicht wieder betreten wollte, fuhr Herta von Wietersheim-Kramsta nach Muhrau und kam zufrieden zurück: „Kinder, das Haus steht noch, geht zurück und macht was draus!“

Mit diesem Spruch habe sie den Kindern bis zu ihrem Tod in den Ohren gelegen, erzählt Melitta Sallai. Diese verwiesen vergeblich auf Eisernen Vorhang und Kommunismus.

In der Volksrepublik Polen diente der Herrensitz als Schulungszentrum des Zivilschutzes. Das Gut nutzte ein staatliches Gestüt. Das Umdenken begann, als die jüngste Schwester, eine begeisterte Reiterin, auf einer Pferdeauktion in Deutschland Andrzej Lobarzewski kennenlernte, den Direktor des Gestüts in Morawa. Zu ihm pflegte die Familie fortan freundschaftliche Kontakte, und dieser war es, der 1990 anrief: „Kommt zurück, die Zeiten haben sich geändert.“

Anfangs zeigten sich die Dorfbewohner feindselig

Jetzt also auch der Pole. Die Schwestern entschlossen sich, tatsächlich in der alten Heimat aktiv zu werden. „Wir glaubten, wenn wir das halbe Haus pachten und darin einen Kindergarten einrichten, haben wir unsere Pflicht getan“, erzählt Melitta Sallai.

Aber die Treuhandgesellschaft, die den staatlichen Besitz übernommen hatte, wollte nur das komplette Schloß und noch den Park dazu, zwölf Hektar, verpachten. Die Familie gründete einen Kindergartenverein mit Sitz in Baden-Baden, später eine Stiftung. Beide wurden nach der Schutzheiligen Schlesiens, der heiligen Hedwig benannt.

Melitta Sallai, schon im Ruhestand, zog stellvertretend für die Familie nach Muhrau und stellte sich der Auseinandersetzung mit den Behörden. Während Gestütsdirektor Lobarzewski und der Striegauer Prälat Siwiec sie unterstützten, zeigten sich der Bürgermeister von Striegau, der Dorfvorsteher und die Dorfbewohner feindselig. Die einen befürchteten, daß in dem Schloß Neonazitreffen stattfinden könnten, die anderen, daß die Deutschen in das polnischerseits als „wiedergewonnene Gebiete“ deklarierte Schlesien zurückkehren, mit ihrem Geld und „irgendwelchen Tricks“ das Verlorene zurückholen würden.

Während die Geschwister Geld sammelten, ertrug Melitta Sallai die mißtrauischen Blicke der Einheimischen, die Anfeindungen, das Wegdrehen. Die Dorfbewohner tuschelten. Passierte nicht genau das, wovor die Kommunisten sie immer gewarnt hatten: die Rückkehr der deutschen Junker?

Auch Sallai war sich unsicher. Würden die Dorfbewohner ihre Kinder in den Kindergarten schicken oder befürchten, daß hier ihre Kinder vielleicht germanisiert würden?

Aufmerksam wurde verfolgt, was aus den Kleintransportern geladen wurde, die immer häufiger vor dem Herrensitz vorfuhren. Eines Tages waren es zehn winzige Toiletten. „Irgendwie war das der Moment, wo ein Umdenken begann“, sagt Melitta Sallai. Auf Kinderklos würden sich die Deutschen ja nicht setzen wollen, vielleicht werde das tatsächlich ein Kindergarten. Die Meinung im Dorf kippte.

Als dann ein Kamerateam aus Breslau nach Morawa kam und die Menschen provokativ fragte, ob sie keine Angst vor der Rückkehr der Deutschen hätten, eine sei ja schon da, sagte eine alte Frau den verblüfften Journalisten: „Vor dem Jüngsten Gericht fragt der liebe Gott auch nicht, ob wir Deutsche oder Polen sind. Da fragte er nur, ob wir gute Menschen sind. Und das sind gute Menschen, die können bleiben.“

Die Sendung wurde ausgestrahlt und habe viel dazu beigetragen, daß das Engagement der von Wietersheim-Kramsta auf Schloß Muhrau akzeptiert wurde und Aufmerksamkeit fand, sagt Sallai. Die Einwohner von Morawa und aus den umliegenden Dörfern meldeten tatsächlich ihre Mädchen und Jungen im neuen Kindergarten an. Und bald schon fragten die Eltern, ob die Kinder nicht auch ein bißchen Deutsch lernen könnten. „Jetzt haben sie einmal in der Woche Deutschunterricht, es werden ein paar Wörter gelernt und Lieder gesungen.“ An einem Tag kommen auch Klosterschwestern und lehren Religion.

„Es ist aber kein katholischer, sondern ein christlicher Kindergarten, in dem nach den Grundsätzen der Montessori-Pädagogik gespielt und gelernt wird“, betont Melitta Sallai, die, evangelisch erzogen, selbst im Alter von 21 Jahren zum Katholizismus übertrat, weil ihr die katholischen Messen mit ihren Weihrauchdüften und fröhlichen Gesängen so gut gefielen. Ihr Vater sei von diesem Schritt zwar wenig begeistert gewesen, habe es aber nicht verboten und sich sogar dafür bedankt, daß sie nicht zum Islam konvertiert sei.

Stiftung hat Herrenhaus und Park übernommen

Inzwischen hat das Kind der deutschen Gutsbesitzer Polnisch gelernt, besitzt neben dem deutschen auch den polnischen Paß und sogar die polnische Ehrenstaatsbürgerschaft. „Das hängt aber mit meinem verstorbenen Mann zusammen“, erklärt sie. Curt Carl Sallai war vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Presseattaché an der ungarischen Botschaft in Warschau und half der polnischen Regierung im September 1939 nach Budapest zu fliehen. Die Schlesierin lernte den 22 Jahre Älteren in Angola kennen, wohin sie 1952 als Kindermädchen einer portugiesischen Familie ausgewandert war und wo sie bis 1982 lebte.

„Charles“ sei ihr Geschichtslehrer geworden, erzählt sie rückblickend eine der unzähligen Anekdoten ihres Lebens. So habe sie ihm eines Tages von Schlesien vorgeschwärmt und mit dem Satz geendet: „Wenn die Polen damals nicht den Sender Gleiwitz überfallen hätten, wäre unser Leben vielleicht anders verlaufen.“ Als ihr späterer Mann daraufhin von Nazis in polnischen Uniformen sprach, die den deutschen Radiosender überfallen hätten – er selbst sei im September 1939 in Gleiwitz gewesen – redete sie zwei Tage lang kein Wort mehr mit ihm.

Es gibt viele Geschichten, die Melitta Sallai aus neun Jahrzehnten erzählen kann. Vom Spielen mit den Richthofen-Kindern im nahen Barzdorf, vom Erleben der Reichskristallnacht 1938 in Striegau und den Beschwichtigungsversuchen der Eltern, als Melitta ihnen beeindruckt von den auf der Straße liegenden Schuhen eines jüdischen Geschäftes erzählte. „Die waren entsetzt, äußerten sich aber nicht vor uns, denn wir hätten doch alles gleich den Dorfkindern weitererzählt.“ Schließlich die Flucht vor den herannahenden russischen und polnischen Armeen nach Südwesten, wo die Mutter ein Häuschen im Kleinen Walsertal gekauft hatte, das kurz nach der Ankunft abbrannte. Auf der Flucht nahmen ihnen Tschechen den Traktor weg, Herta von Wietersheim-Kramsta mußte mit den sieben Kindern zu Fuß weiterziehen.

All das hat sie in einem Büchlein, „Von Muhrau nach Morawa“, aufgeschrieben. „Die Heimat habe ich in mir mitgenommen, und sie immer dort aufgebaut, wo ich gerade gelebt habe“, hat Melitta Sallai einmal formuliert.

Längst hat die Hedwig-Stiftung Herrenhaus und Park erworben, der Kampf ums wirtschaftliche Überleben ist damit aber nicht einfacher geworden. Ohne ertragreiche Ländereien ist es schwierig, ein so großes Gebäude und den Park zu unterhalten. So freut sich Melitta Sallai über jede Zuwendung.

Die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit half beispielsweise bei der Erneuerung des Daches. Inzwischen werden Übernachtungen angeboten und für Tagungen stehen 50 Betten in 22 Zimmern, eine Aula mit technischer Ausstattung sowie drei gemütliche Aufenthaltszimmer und ein Speisesaal zur Verfügung. Seminare über die Geschichte Schlesiens finden statt, Sprachkurse und Kurse in Montessori-Pädagogik. Auch Hochzeiten und andere Feste werden auf Wunsch organisiert. Und im benachbarten Gestüt können Reitstunden und Kutschfahrten gebucht werden, finden Reitturniere statt.

„Dinge sind nicht wichtig“, hatte Herta von Wietersheim-Kramsta ihren Kindern immer gesagt: „Du kannst sie nicht ins Jenseits mitnehmen. All das ist nur geliehen.“ Dieses Vermächtnis ihrer Mutter setzen sie nun seit 25 Jahren um. Muhrau sei kein Familienbesitz, sagt Melitta Sallai. Es werde sich immer jemand finden, der die St.Hedwig-Stiftung „in unserem Sinne weiterführen wird“.