© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

Pankraz,
L. Wittgenstein und die fremden Wörter

Alarm am falschen Ort? Das fragt sich der Leser eines Büchleins der britischen Linguistin Ella Frances Sanders, das soeben im Literaturverlag DuMont erschienen ist (Köln 2017, gebunden, 112 Seiten, 18 Euro). Es heißt wie das Original „Lost in Translation“ und soll auch so heißen, denn es geht darin um angeblich „unübersetzbare Wörter aus aller Welt“, von denen es immer mehr gebe.

Sprachen, so wird suggeriert, sind über weite Strecken kein Verständigungsmittel, sondern Abgrenzungsmittel. Ihre einzelnen Wörter können nicht einfach durch ein Wort aus der Übersetzersprache „ersetzt“ werden, sondern erfordern langwierige Erklärungen des Übersetzers, die das ganze sprachliche Umfeld verändern und oft eine völlig andere, dem Original fremde Textstruktur entstehen lassen.

Die Beispiele, die Sanders nennt, überzeugen freilich nicht. Die Japaner, erfahren wir etwa, hätten ein Wort dafür, wie das Sonnenlicht durch die Blätter der Bäume schimmert  – unübersetzbar! Oder die Finnen hätten ein Wort, das die Entfernung bezeichnet, die ein Rentier bequem zurücklegen kann, bevor es eine Pause braucht – unübersetzbar! Und so geht es weiter. Pankraz fragt sich kopfschüttelnd, was hier „unübersetzbar“ sein soll.

Meistens genügt doch schon ein einziger kraftvoller, bedachtsam formulierter Neologismus aus der Sprache, in die hinein übersetzt wird, um der Anschaulichkeit und Genauigkeit des Tatbestands Genüge zu tun. Und schwierigstenfalls wird eben das scheinbar unübersetzbare Wort klanglich einfach in die Übersetzersprache übernommen; der Leser wird aus dem textlichen Umfeld leicht entnehmen können, um was es sich handelt. Die Übersetzer müssen nur wirklich gut sein, ihrem Beruf in jeder Hinsicht gewachsen.


Bietet Ella Sanders’ Buch also nur eine Art kritikhaltigen Übersetzerscherz? Davon kann freilich nicht die Rede sein, rührt es doch an Dimensionen, die für die Menschheit geradezu existenzentscheidend sind und schon seit jeher die größten Nachdenker auf den Plan gerufen haben. Inwieweit können wir den Wörtern trauen, wie konkret sind sie und wie genau spiegeln sie die gemeinte Sache wider? Und wieso gibt es so viele Sprachen? Eine einzige würde doch genügen, wenn man sich über deren Abbildtreue und Einsatzfähigkeit überzeugend verständigen könnte.

Hat vielleicht das biblische Gleichnis vom Turmbau zu Babel recht, wo Gott die Menschen erfolgreich daran hindert, „bis in den Himmel zu bauen“, indem er ihre Sprache „verwirrt“, das heißt in unzählige Einzelsprachen aufspaltet? Und was ist der Grund dafür, daß die größten Weisheitslehrer der Geschichte,  Buddha, Konfuzius, Sokrates, Christus, kein einziges Wort selber aufgeschrieben oder sonstwie überliefert haben? Wußten sie, daß sie sich dann in unzählige Sprachen aufspalten würden, welche ihre Botschaft eher verdunkeln denn offenbaren? 

Instagram-Ideologen der allerneuesten Zeit weisen darauf hin, daß die Buddha & Co. zwar dem Wort und der Sprache insgesamt mißtraut hätten, nicht aber dem Bild, daß also das Bild schon für sie als der wahre Botschafter des Seins galt. Pankraz hält diese Meinung für falsch. Buddha- oder Christusbilder, inklusive Statuen von ihnen, verbergen die Botschaft nicht weniger resolut als Buchstaben und Texte. Nicht ohne Grund ist im Islam jede bildliche Darstellung sowohl Allahs wie seines Propheten strikt verboten. 

Und man beobachte nur einmal, wie hilflos das Fernsehen mit seiner Bilddominanz sogenannte „letzte“, theologisch-philosophische Themen umsetzt (wenn es sie denn je umsetzt). Es ist die pure Katastrophe. In-stagram-Ideologen weisen nun darauf hin, daß auch die Buchstaben der Sprache ursprünglich Bilder gewesen seien, die berühmten Hieroglyphen. Aber je mehr Bildhaftes die Hieroglyphen im Lauf der Jahrhunderte abschliffen, je mehr sie sich zum abstrakten Sprachbestandteil verkürzten, um so eindeutiger wurden sie.


Ein schriftlicher Kontext ist in jedem Falle ehrlicher als ein Bild, seine Lüge ist leichter zu durchschauen als die Lüge eines Bildes, weil er gewissermaßen nicht mit der Tür ins sinnliche Haus fällt. Man muß immer nachbuchstabieren, was gemeint ist, und gewinnt schon dadurch Distanz und Gelegenheit zu gedanklichem Atemholen. Natürlich kann man niemals sicher sein, ob man den gemeinten Sinn auch wirklich geschnallt hat – aber just in dieser Unsicherheit wird die Schrift zum Paradigma von Information überhaupt.

Der große Denker Ludwig Wittgenstein (1889–1951) hat sich bis zu seinem Tod mit der Frage herumgeschlagen, ob es eine Sprache geben könne, die prinzipiell nur von einem einzigen Menschen verstanden werden kann, eine „Privatsprache“ also. Und seine mit aller Skrupulosität erfolgende Antwort lautete: „Nein“.

Denn Zeichen, Buchstaben und Wörter, die ich nur für mich selbst schaffe, argumentierte er, entbehren nicht nur jeglicher Kommunikationsfähigkeit, sondern sie lassen auch in meiner privaten Sphäre keine Luft für ein in sich sinnvolles Sprachspiel. Ich muß mich ja immer, wenn ich das Privatwort gebrauche, genau an die Situation erinnern, in der ich das Wort geschaffen habe, verfüge aber über kein Kriterium für diese situative Genauigkeit.

Was nun aber für mich selbst und meine Privatsprache gilt, das gilt letztlich für die ganze Kommunikationsgemeinschaft. Auch sie verfügt über kein Genauigkeitskriterium der Erinnerung, muß sich im „Diskurs“ immer wieder über den jeweiligen Bedeutungsspielraum der Wörter und Sätze verständigen. Wir verstehen unsere Sprache, unsere sogenannte Muttersprache, nicht. Sie ist ein Proteus, und die Logiker, die sie kalkulieren und voll verfügbar machen wollen, rennen ihr immer nur hinterher.

Andererseits ist uns die Sprache Heimat, nirgendwo fühlen wir uns so zu Hause wie in der Muttersprache. Sie ist Heimat und Fremde zugleich, und aus dieser Verstrickung erlöst uns auch kein Büchlein.