© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

Sichten und Rammen
Asteroiden im Anflug: Die Verteidigung unseres Planeten vor Einschlägen nimmt Konturen an
Marc Zoellner

Glücklicherweise gehört „2012 TC4“ zu den kleineren seiner Art. Gerade einmal zehn bis dreißig Meter mißt der Asteroid an seinen breitesten Stellen im Umfang. Auch, daß seine Flugbahn als relativ sicher gilt – relativ in Anbetracht der schier unendlichen Distanzen allein in unserem eigenen Sonnensystem – darf als Glück gelten. Denn immerhin wiegt der Komet, dessen Erscheinen zum ersten Mal im Oktober 2012 beobachtet wurde, Schätzungen zufolge um die 7.000 Tonnen. Sein Einschlag auf der Erde hätte jedoch dramatische Folgen. Allein seine Detonationskraft betrüge etwa jene von zwanzig simultan gezündeten Atombomben.

Doch wenn 2012 TC4 am 12. Oktober dieses Jahres um exakt 6.41 Uhr mitteleuropäischer Zeit den nächtlichen Himmel überquert, wird die Menschheit noch einmal mit dem Schrecken davonkommen. Die Nasa zeigt sich sicher: Gefährlich nahe kommt uns der Komet. Nicht nur aus astronomischer Perspektive – denn jene 6.800 Kilometer Distanz, welche im Oktober noch zwischen dem Kometen und der Erde verbleiben, sind gerade einmal äquivalent zur Strecke zwischen Berlin und New York oder auch Berlin und Nairobi. Doch 2012 TC4, so die Wissenschaftler der US-Weltraumagentur, wird uns noch einige weitere Male verfehlen. Mindestens bis zum 12. Oktober 2050.

Spätestens ab dieser Stelle ist Schluß mit genauen Vorausberechnungen seiner Kursbahn. Fest steht lediglich: Die Wahrscheinlichkeit, daß 2012 TC4 auf der Erde aufschlägt, wächst stetig in den fortlaufenden Jahrzehnten. Früher oder später stellt der Komet, der sich mit über 24,4 Kilometern pro Sekunde durch das Sonnensystem bewegt, eine akute Bedrohung für die menschliche Zivilisation dar. Genauso wie bereits jetzt jene gut 1.800 Himmelskörper, welche die Nasa als „potentially hazardous objects“ (PHO), als „potentiell gefährliche Objekte“, klassifiziert: Kometen und Felssplitter, deren ballistische Bahnen jene der Erde zu überschneiden drohen und deren Gewicht, chemische Zusammensetzung oder auch Volumen genügen, um beim Einschlag auf unseren Planeten Flut- und Schockwellen auszulösen.

Mangelnde Datenerfassung erschwert Handlungsoption

Wenig weiß man bislang über diese Geschosse, abgesehen von ihrer bloßen Existenz. Aufgrund ihrer geringen Größe sowie der schwachen Eigenlichtabsonderung liegen ihre tatsächlichen Flugbahnen für die Astronomen der Erde im Dunkeln verborgen. Gerade einmal 200 der 1.800 bekannten PHOs besitzen einen Beobachtungsradius von unter 30 Tagen. Vom großen Rest sehen die Wissenschaftler oftmals über Jahre keine Spur in ihren Teleskopen, bis sie urplötzlich wieder in Erdnähe auftauchen.

Oder gar überraschend in die Erdatmosphäre eintreten, so wie der Meteor von Tscheljabinsk: Am 15. Februar 2013 explodierte dieser Bolide im Südural am Himmel, nur unweit der russischen Millionenmetropole Tscheljabinsk. Die Explosion des gut 12.000 Tonnen schweren Meteoriten, der in rund 30 Kilometern Höhe stückweise verglühte und dadurch zerbrach, ließ ganze Dächer einstürzen sowie im Umkreis von Dutzenden Kilometern unzählige Glasscheiben zerspringen. Über 1.500 Menschen wurden bei dieser unvorhergesehenen Naturkatastrophe verletzt.  Im darauffolgenden Herbst wurde dann ein gut 600 Kilogramm schweres Fragment des Meteors aus einem See geborgen. In Moskau klingelten die Alarmglocken: „Wir sehen hier den Beweis, daß nicht nur nationale Wirtschaften verletzbar sind“, warnte am Folgetag Dmitri Medwedew, damals wie heute Ministerpräsident der Russischen Förderation, „sondern der gesamte Planet.“ Er forderte die Weltgemeinschaft auf, sich verstärkt um ein Frühwarnsystem zur Aufspürung sich nähernder Kometen zu bemühen.

Tatsächlich hätte noch weit schlimmeres passieren können, wie man gerade in Rußland nur allzu gut weiß: Denn nur hundert Jahre vorher erschütterte eine ähnliche Katastrophe das Zarenreich, deren Auswirkungen selbst im fernen London noch deutlich am Himmel zu sehen waren. Im heutigen Autonomen Kreis der Ewenken, dem seit je am geringsten besiedelten Verwaltungsbezirk Rußlands, gut 2.500 Kilometer östlich von Tscheljabinsk im mittleren Sibirien gelegen, explodierte am 30. Juni 1908 ein gewaltiger Meteor am Himmel über dem Flüßchen Tunguska. Auf einer Fläche von der Größe des Saarlandes wurden sämtliche Bäume entwurzelt. Die gesamte Rentierpopulation starb. 

 Es bleibt ein großes Glück im Unglück, daß die drei stärksten Detonationen von Meteoriten im vergangenen Jahrhundert – 1908 über Tunguska, 1930 über dem Dschungel Westbrasiliens sowie 1963 über den Prinz-Edward-Inseln, auf halber Höhe zwischen Südafrika und der Antarktis im Indischen Ozean gelegen – über nahezu unbewohnten Gebieten stattfanden.

 Doch die Verstädterung der Welt schreitet voran. Früher menschenleere Regionen werden heutzutage aufgrund ihres Rohstoffreichtums interessant. Kaum ein Fleck Welt gilt derzeit noch als unbesiedelt. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein weiterer Einschlag wie obige drei ohne größere Opferzahlen verläuft, sinkt jährlich rapide. Dessen ist man sich spätestens nach dem Vorfall von Tscheljabinsk nicht nur in Moskau, sondern auch bei der Nasa wohl bewußt.

Letztere reagierte dementsprechend: Diesen Sommer stellte die US-Raumfahrtbehörde erstmals konkrete Pläne vor, einem drohenden Armageddon nicht mehr nur passiv beizuwohnen, sondern Kollisionskatastrophen künftig aktiv zu verhindern. Am 12. Oktober dieses Jahres soll der Startschuß zu jenem Projekt ertönen, welches die Nasa als „Planetares Verteidigungssystem“ bezeichnet – und das bereits in fünf Jahren einsatzfähig sein soll. Das Datum des Programmbeginns ist dabei alles andere als zufällig gewählt.

„Wenn wir früher darüber diskutierten, wie man Asteroiden ablenken kann, hatten wir im Normalfall Tagungen, die sich aus Wissenschaftlern, Bürokraten und Ingenieuren zusammensetzten, und worin man beriet, wie man sicher eine größere Stadt evakuieren kann“, erklärt Vishnu Reddy, Astrophysiker und Planetologe an der Universität von Arizona, die bisherige Zusammenarbeit seines Instituts mit der Nasa im Rahmen des Katastrophenschutzes. Denn bislang, so Reddy, mangelte es noch immer an handfesten, aus Beobachtungen gewonnenen Daten, um präventiv auf herannahende Himmelskörper zu reagieren. „In der Regel erfahren wir von Asteroiden gerade einmal ein oder zwei Tage im voraus, bevor sie die Erde passieren.“

Ganz anders als bei 2012 TC4: „Diesen Asteroiden hatten wir vor fünf Jahren entdeckt“, berichtet Reddy. „Wir wußten ja, daß er im Oktober sehr nahe sein würde. […] Also sagte ich: Warum nicht das nächste Level angehen und tatsächlich einen echten Asteroidenvorbeizug nutzen? Und so fragten wir Beobachter an, diesen Asteroiden koordiniert zu überwachen und diese Informationen an Modellentwickler weiterzuleiten, welche damit das Risiko berechnen können, dem der Asteroid uns aussetzt.“

Mit über zwanzig rund um den Globus verteilten Teleskopstationen fanden sich recht viele Freiwillige ein, um an Reddys Vorhaben zu partizipieren. Lückenlos, so der Plan der Astrowissenschaftler, soll der Flug von 2012 TC4 am 12. Oktober dokumentiert werden; nicht nur, um die Flugbahn des Asteroiden genau zu beobachten, sondern ebenso, um künftige Annäherungen an die Erde möglichst detailliert vorauszubestimmen. Denn 2012 TC4 soll als Präzedenzfall gehandhabt werden. Seine erstmalig konziertierte Erfassung diesen Oktober ist nämlich nur die erste Stufe eines mehrere Milliarden US-Dollar schweren Programms, die Flugbahn von Kometen und Asteroiden aktiv zu verändern.

Ideen dazu lagen bereits reichlich seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den Schubladen der Nasa: Angefangen bei Nuklearraketen, um als gefährlich geltende Himmelskörper schlicht im Weltall zu zersprengen, bis hin zu auf Satelliten montierten Laserwaffen, deren Hitzestrahlen die Eishüllen herannahender Kometen verdampfen lassen sollten. Doch eine tatsächliche Ausführung dieser Visionen erwies sich bislang als schwierig bis unmöglich. Denn selbst wenn ein Komet durch die Explosion eines Sprengsatzes zerstört würde, wäre nicht sichergestellt, daß dessen Trümmer nicht doch auf der Erde einschlagen – und vielleicht sogar noch viel größeren Flächenschaden anrichten könnten. Ebenso fürchtete die Nasa bislang politische Komplikationen, würde ein Staat dieser Erde im Weltall eine Atombombe zünden. Hinzu kommt noch die unzureichende Trefferquote konventioneller ballistischer Waffen auf weite Distanz sowie sich rasend schnell bewegender Körper, wie sie Kometen darstellen.

All diese Probleme umgeht die Weltraumbehörde mit ihrer am 23. Juni dieses Jahres vorgestellten Mission auf elegante Weise: Basierend auf den Erkenntnissen Reddys sowie der Universität von Arizona, mit deren Veröffentlichung im Januar 2018 gerechnet wird, plant die Nasa zwischen Dezember 2020 und Mai 2021 den Start einer gänzlich neuen Art von Satellit. „DART“, so nennen die US-Wissenschaftler ihre kommende Mission, „Double Asteroid Redirection Test“. Denn tatsächlich nehmen die Astrophysiker mit den Asteroiden Didymos A und B gleich zwei für ihr Vorhaben interessante Himmelskörper ins Zielkreuz.

Austritt von Gasen soll Umlaufbahn ändern 

Der DART-Satellit, der aufgrund seines Algorithmus autonom manövrieren und auch seinen Kurs ändern kann, soll dabei den relativ kleineren, im Durchmesser jedoch noch immer gut 160 Meter ausmachenden Zwilling lokalisieren und ansteuern. Mit zwei Sonnensegeln ausgestattet und einem Gesamtgewicht von nur 500 Kilogramm ist der Satellit dabei kaum größer als ein Kühlschrank. Doch seinem Zweck genügt er damit bereits: in Didymos B einzuschlagen sowie ein kleines Loch zu hinterlassen, aus welchem die Gase des Kometeninneren entweichen können. Der Austritt der Gase, so die Idee der Wissenschaftler, bremst den Kometen ab und läßt ihn dadurch aus seiner Umlaufbahn abdriften und, durch die geschwächten Fliehkräfte, stetig näher an die Sonne gleiten, wo er in einigen Millionen Jahren verglühen wird.

„DART wird die erste Mission sein, in welcher die Nasa ihre kinetische Einschlagtechnik demonstriert – einen Asteroiden zu rammen, um seine Umlaufbahn zu verändern“, erläutert Lindley Johnson, Planetenverteidigungsdirektor der Nasa. Auch Andy Cheng vom Applied Physics Laboratory zeigt sich optimistisch: „DART ist ein entscheidender Schritt in der Beweisführung, daß wir unseren Planeten vor künftigen Asteroideneinschlägen schützen können.“

Symbolträchtig ist das Datum, welches für den Einschlag des Satelliten auf Didymos B gewählt wurde: der Oktober 2022 – genau zehn Jahre nach der Entdeckung des Asteroiden 2012 TC4 und fünf Jahre nach Reddys wegweisendem Experiment vom Herbst dieses Jahres. Daß das Zeitfenster für DART so eng gesetzt wurde, ist nicht zufällig, denn beinahe täglich entdecken Astronomen derzeit neue PHOs. So wie beispielsweise „2017 RV1“, der ebenfalls am 12. Oktober dieses Jahres, nur wenige Stunden vor 2012 TC4, die Erde passieren wird – und aufgrund seines Durchmessers von bis zu 590 Metern bereits jetzt von der Nasa als „potentiell gefährlich“ klassifiziert wird.





Gefährlicher Weltraumschrott

Angesichts von mehr als 750.000 als gefährlich eingestuften Trümmerteilen, die aktuell die Erde umkreisen, sind dringend koordinierte internationale Maßnahmen erforderlich, um langfristig die Nachhaltigkeit der Raumfahrt zu sichern. So lautet eine der wichtigsten Erkenntnisse der bislang größten europäischen Konferenz über Weltraumschrott, die Ende April in Darmstadt stattfand. Der Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation Esa, Jan Wörner, appellierte an die Beteiligten des Raumfahrtsektors, Schrott in der Erdumlaufbahn möglichst zu vermeiden. Seit 1957 seien mehr als 5.250 Raketen gestartet worden, was dazu geführt habe, daß heute mehr als 23.000 Objekte in der Erdumlaufbahn kreisen. Nur rund 1.200 davon seien funktionierende Satelliten – der Rest Trümmer von explodierten oder auseinandergebrochenen Raumfahrzeugen.  „Im Orbit entfalten diese Objekte ungeheure relative Geschwindigkeiten und können zu regelrechten Geschossen werden, die Infrastrukturen im All beschädigen oder zerstören“, erläutert Holger Krag, Leiter des Esa-Büros für Weltraumtrümmer.