© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

Grüße aus Brüssel
Wozu Regeln?
Dirk Friedrich

Brüssel kennt keinen Konsens bei Verkehrsregeln. Manche Fahrer kommen komplett ohne aus. Belgien kannte bis zum Jahr 1977 keine Führerscheinpflicht. Das Zusammentreffen des höchst unterschiedlichen Fahrverhaltens von Zehntausenden Eurokraten aus allen Winkeln der EU mit jenem der Wallonen und der Flamen potenziert diesen Effekt noch. 

Von der fahrerischen Individualität der Minderheiten aus den belgischen Kolonien und Nordafrika ganz zu schweigen. Jeder mißt den Verkehrsregeln jene Bedeutung zu, die er aus seinem Geburtsland mitgebracht hat. 

So ist es üblich, daß man einige Ampelphasen auf dem Linksabbieger wartet, nur um dann jemandem den Vortritt zu überlassen, der, auf der rechten Spur an den Wartenden vorbeifahrend, an vorderster Stelle nach links einfädelt. Ja, ungewohnte Vorstellung. Doch hupen lohnt nicht. Hupen ist hier kein Ausdruck der Empörung, sondern dient dem Erheischen von Aufmerksamkeit. An die Stelle von Regeln tritt die Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern. Frei nach dem  österreichisch-amerikanischen Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick gilt: Man kann nicht nicht kommunizieren. Wer guckt, verliert. Wer als korrekter Deutscher auf Regeln und Vorfahrt beharrt, der auch.

45 Minuten mit dem Auto, was zu Fuß in zehn Minuten machbar ist – keine Seltenheit.

Zudem wimmelt es in Brüssel von werksneuen Autos. Belgiens Steuerrecht macht Firmenwagen attraktiv. Die Arbeitgeber bezahlen Versicherung und Tankkarte, inklusive aller privaten Fahrten. Gehaltserhöhung? Sie bekommen einen A6 statt eines A4. Kilometer zu schrubben kostet die meisten Fahrer nichts. Also werden viele zurückgelegt. Eine Dreiviertelstunde mit dem Auto, was zu Fuß in zehn Minuten machbar ist – keine Seltenheit. Brüssels Straßen sind so voll wie schlecht geplant. Irrationale Tunnel durchziehen die Stadt, um die engen Straßen, die häufig nur in einer Richtung befahren werden dürfen, zu entlasten. Die Tunnel sind marode. Stets wird saniert. Dazu sind regelmäßig Teil- und Vollsperrungen nötig, die einen Verkehrsinfarkt bewirken.

Doch die, die schon länger hier leben, nehmen Staus gelassen hin. Sie empören sich nicht. Sie sind durch die staatlichen Krippen ab dem Alter von drei Monaten das Warten gewohnt. Wo in Deutschland Ärger über Staus aufkommt, da regiert in Belgien gefaßter Langmut. Die neu Hinzugekommenen passen sich an. Sie haben gelernt: Belgien ist wie Burkina Faso. Mit Regen.