© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

„Nicht über Notizstadium hinaus“
Grenzöffnung in der Asylkrise: Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages legt nahe, daß die Bundesregierung das Parlament übergangen hat
Peter Möller

Noch am Wahlabend erneuerte die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel eine der zentralen Wahlkampfforderungen ihrer Partei: die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses des Bundestages, um mögliche Rechtsbrüche von Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 zu untersuchen. Mit ihrer Forderung stand die AfD im Wahlkampf nicht allein. Auch FDP-Chef Christian Linder hatte diese Option mehrfach ins Spiel gebracht.

Sollte seine Partei in eine schwarz-gelb-grüne Koalition eintreten, dürfte sich dieses Thema allerdings erledigt haben. Daß die FDP als Teil der Bundesregierung gemeinsam mit der AfD einen Untersuchungsausschuß gegen Merkel einsetzt, ist ausgeschlossen. Kaum vorstellbar auch, daß die AfD trotzdem die für die Einsetzung notwendige Zahl von 25 Prozent der Abgeordneten zusammenbekommt.

Dabei ist das Thema drängender denn je. Denn unmittelbar vor der Wahl hatte die Welt Ende vergangener Woche über eine brisante Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages berichtet, die sich mit der Frage nach der Rechtsgrundlage für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin beschäftigt. Die bereits im Mai dieses Jahres verfaßte Untersuchung, die mittlerweile für jedermann im Internet zugänglich ist, wurden dabei nicht fündig. Mit anderen Worten: Die Bundestags-Juristen konnten keine Rechtsgrundlage für die Einreise der Mehrzahl der rund eine Million Flüchtlinge ab dem 4. September 2015 nach Deutschland finden.

Dabei ist die Sache eigentlich ganz einfach: „Danach sind Ausländer, die unerlaubt einreisen wollen, an der Grenze zurückzuweisen“, heißt es in der Studie unter Verweis auf das Aufenthaltsgesetz. Zudem ist Asylsuchenden die Einreise zu verweigern, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat einreisen wollen. Mit zwei Ausnahmen, wie die Parlaments-Juristen zeigen: bei einer „unions- oder völkerrechtlich begründeten Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland“ laut Dublin-III-Verordnung oder bei „Vorliegen einer entsprechenden Anordnung des Bundesministeriums des Inneren“.

Doch eine solche Anordnung des Innenministeriums, über die mehrfach berichtet wurde, hat es nach Recherchen der Welt überhaupt nicht gegeben: „Im Zusammenhang mit der Einführung der Binnengrenzenkontrollen haben Prüfungen der rechtlichen Rahmenbedingungen stattgefunden. Diese Erwägungen waren allgemeiner Natur und gingen nicht über ein Notizstadium hinaus“, antwortete das Bundesjustizministerium der Zeitung ausweichend.

„Merkel und Gabriel haben die AfD gestärkt“

Ähnlich undeutlich verhält es sich bei dem sogenannten Selbsteintrittsrecht, mit dem Staaten Asylbewerber aufnehmen können, für die eigentlich ein anderer Staat zuständig ist. „Von dem Selbsteintrittsrecht ist möglicherweise auch im Zusammenhang mit der Einreise von Flüchtlingen aus Ungarn über Österreich Anfang September 2015 Gebrauch gemacht worden“, erläutert die Studie. Möglicherweise. Denn eine offizielle Berufung der Bundesregierung auf das Selbsteintrittsrecht hat nicht stattgefunden. Auf welcher Rechtsgrundlage die massenhafte Einwanderung erfolgte, bleibt somit im dunkeln. Das elf Seiten umfassende Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes, das von der Linkspartei-Abgeordneten Sevim Dagdelen in Auftrag gegeben wurde, greift auch einen wesentlichen Kritikpunkt an der Politik der offenen Grenzen auf: die fehlende Beteiligung des Parlamentes. Kritiker der Flüchtlingspolitik argumentieren, Merkel hätte den Bundestag über die Einreise Hunderttausender Ausländer abstimmen lassen müssen – und sei es nur nachträglich. Für diese Argumentation läßt auch das Papier Sympathie erkennen: „Schon mit der Einreise von Asylsuchenden entstehen zahlreiche staatliche Pflichten, die – je nach Anzahl der Asylsuchenden – einen hohen Verwaltungsaufwand erfordern und hohe Kosten verursachen. Diese Auswirkungen beschränken sich dabei nicht auf die Dauer der Asylverfahren“, führen die Autoren der Studie aus. Ihrer Ansicht nach sei es vertretbar, zu argumentieren, „daß die pauschale und massenhafte Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden mit so erheblichen Folgen für das Gemeinwesen verbunden ist, daß sie die ‘Wesentlichkeitsschwelle’ überschreitet“.

Die Bundestags-Juristen weisen zudem auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Familiennachzug hin – eine Frage, die im kommenden Jahr wieder hochaktuell werden wird, wenn über den 2016 für zwei Jahre ausgesetzten Familiennachzug für Syrer entschieden werden muß. Laut der zitierten Entscheidung der Karlsruher Richter sei es letztendlich die Entscheidung des Bundestages, „ob und bei welchem Anteil Nichtdeutscher an der Gesamtbevölkerung die Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet begrenzt wird oder ob und bis zu welchem Umfang eine solche Zuwanderung geduldet oder gefördert wird“. Eine Einschätzung, die sich natürlich auch auf die Situation im Herbst 2015 anwenden läßt.

„Es war richtig, 2015 Menschen zu helfen. Das Gutachten zeigt aber, wie bedenkenlos Merkel und Gabriel dabei vorgegangen sind und so am Ende die AfD gestärkt haben“, kommentierte Dagdelen das Ergebnis der von ihr beauftragten Studie. „Leider haben sie weder den Bundestag noch die Nachbarländer in den Entscheidungsprozeß einbezogen. Die Kanzlerin sollte aus Respekt vor dem Bundestag dazu Stellung nehmen.“ 

Mit Blick auf eine mögliche „Jamaika“-Koalition ist das allerdings unwahrscheinlicher denn je.