© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Bis zum ruhmlosen Untergang 1990
Die „Hausdivision“ des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR hat ihren Geschichtsschreiber gefunden
Jürgen W. Schmidt

Die 1. motorisierte Schützendivision der NVA war rund um Berlin (Potsdam, Brandenburg, Stahnsdorf, Oranienburg-Lehnitz, Brück) stationiert und galt als „Hausdivision“ des DDR- Verteidigungsministers. Das betraf nicht nur die ständige Teilnahme von Truppenteilen der Division an den großen Militärparaden in Berlin. Wegen der modernen Kasernenbauten des Artillerieregiments 1 in Lehnitz bei Oranienburg wurden hier  ausländische Militärdelegationen empfangen, um ihnen ein positives NVA-Bild zu vermitteln. Auch Theo Sommer von der Zeit ließ sich vom äußeren Erscheinungsbild blenden, als er 1986 als erster bundesdeutscher Journalist in einem NVA-Regiment empfangen wurde. Sommer berichtete daraufhin relativ wohlwollend über das AR-1. 

Die 1. motorisierte Schützendivision war aber nicht nur eine der kampfkräftigsten NVA-Divisionen, sondern auch die im Jahr 1956 zuerst aufgestellte NVA-Division. Mit Bewaffnung und Technik immer gut ausgerüstet, nahm sie im August 1961 an der militärischen Absicherung des Berliner Mauerbaus teil und zeigte später bei Notwendigkeit in politischen Krisenlagen dem potentiellen Gegner im Westen ihre Zähne. Zuletzt geschah das ab Mitte der achtziger Jahre, als eine Truppenübung der 1. MSD Ziel der allerersten Inspektion von Bundeswehroffizieren in der DDR war, ermöglicht durch die KSZE-Verhandlung zur Vertrauensbildung in militärischen Fragen. Die inspizierenden Bundeswehroffiziere zeigten sich schwer beeindruckt vom hohen Stand der Formaldisziplin und Gefechtsausbildung in der Division. 

Klaus Froh, der Verfasser vorliegender Divisionsgeschichte, war NVA-Oberstleutnant, ist ein promovierter Militärhistoriker und hat unter Nutzung von Zeitzeugenberichten und der im Bundesarchiv/Militärarchiv in Freiburg lagernden NVA-Akten eine relativ objektive Divisionsgeschichte verfaßt. Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt auf der Geschichte der einzelnen Truppenteile und Einheiten, ihrer wechselnden Standorte und der Stellenbesetzung des höheren Offizierskorps. Hinzu kommen die „Ruhmestaten“ der Division in der Gefechtsausbildung. 

Sowjetische Truppen bei Militärübung vorgeführt

Im August 1957 beispielsweise mußte sich die Division unter ihrem damaligen Kommandeur Oberstleutnant Horst Stechbarth in einer zweiseitigen Truppenübung mit einer Division der Sowjetarmee messen, wobei die Übung vom Marschall der Sowjetunion Andrej Gretschko persönlich geleitet wurde. Zur großen Überraschung des Marschalls gelang es den Aufklärungskräften der Division zügig, die Gefechtsordnung des sowjetischen „Gegners“ aufzuklären, während die Sowjets bei ihrem nachfolgenden Angriff auf Scheinstellungen aufprallten, welche sie fälschlich für die Hauptverteidigungslinie gehalten hatten. Marschall Gretschko zeigte sich beeindruckt, und die Übung beförderte ungemein den späteren Aufstieg des jungen Divisionskommandeurs Stechbarth zum Generaloberst und Chef der NVA-Landstreitkräfte. 

Unangenehme Vorfälle in der Geschichte der Division spart Klaus Froh nicht aus. So kamen im August 1965 sieben Kinder eines Kinderferienlagers des DDR-Fernsehfunks zu Tode, als ein Schwimmpanzer sank, in welchem sie ein blutjunger Panzeroffizier unter Verstoß gegen alle Sicherheitsbestimmungen mitgenommen hatte. Wegen ihrer grenznahen Stationierung hatte die Division während ihrer ganzen Existenzdauer unter Desertionsversuchen und gelungenen Desertionen nach West-Berlin zu leiden. 1962 desertierte mit dem damaligen Kommandeur des Mot.-Schützenregiments 2 Oberstleutnant Martin Löffler der ranghöchste Offizier in der gesamten NVA-Geschichte erfolgreich in den Westen. Manche Desertionsversuche mögen dagegen „Fake-Desertionen“ im Auftrag des MfS gewesen sein, wie etwa die des Soldaten M.W. vom bereits erwähnten MSR-2 in Stahnsdorf im Jahr 1983. 

Viel wird in der Divisionsgeschichte über „Sozialistischen Wettbewerb“ geschrieben, welcher angeblich die NVA-Angehörigen immer aufs neue beflügelte. Ungeachtet der hohen Leistungsbereitschaft, die gerade die einfachen Soldaten immer wieder bei Gefechtsübungen bewiesen, hatte dies wenig mit „Wettbewerb“ zu tun. Wettbewerb war immer von „oben“ befohlen und wurde folglich selbst von den Offizieren nur lustlos betrieben. Er brachte häufig genug kontraproduktive Ergebnisse. 

Die „Rompe“-Bewegung etwa, bei welcher aus finanziellen Gründen Panzermotoren weit über die festgelegten technischen Nutzungsnormen der nächsten Wartung hinaus betrieben wurden, führte letztlich nur zum vorzeitigen Verschleiß. Leider findet sich in der vorgelegten Divisionsgeschichte kaum etwas über die militärischen Planungen zum Einsatz der Division im Kriegsfall. Zwar lag die erstrangige Aufgabe der Division darin, im „Ernstfall“ West-Berlin in Zusammenarbeit mit sowjetischen Truppenteilen, dem MfS und der Volkspolizei zu besetzen, doch war als zweite Handlungsvariante ein Einsatz im norddeutschen Raum im Geländestreifen zwischen Hamburg und Wolfsburg in Richtung niederländische Grenze vorgesehen. Gleichfalls findet sich nichts im Buch über die kriegsmäßige Verwendung der seit 1963 in der Division existierenden Raketenabteilung-1, deren taktische Raketen dann mit Kernsprengköpfen sowjetischer Herkunft bestückt werden sollten. Mit der Schilderung des ruhmlosen Abgesangs der Division, Stichwort „Meuterei von Beelitz“ im Januar 1990, endet das Buch.






Dr. Jürgen Schmidt ist Historiker und diente vor seinem Studium an einer sowjetischen Militärakademie von 1979 bis 1987 als Offizier in der 1. mot. Schützendivision.

Klaus Froh: Die 1. MSD der NVA. Zur Geschichte der 1. mot. Schützendivision 1956–1990. Helios Verlag, Aachen 2017, gebunden, 405 Seiten, Abbildungen, 28 Euro