© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Pankraz,
Machiavelli und die ratlosen Kunden

Herrschaft der Dinge“ heißt ein sehr dickes Buch von Frank Trentmann über die, so der Untertitel, „Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute“ (DVA, München 2017, gebunden, 1.104 Seiten, 40 Euro). Es sollte besser „Die Macht der Kunden“ heißen, denn über die Dinge selbst erfährt man nichts, viel aber über die Kunden, die sie kaufen. Es ist eine strapaziöse, aber auch interessante und nicht zuletzt recht aktuelle Lektüre.

Einst stand der Kunde in höchstem Ansehen; „der Kunde ist König“ hieß eine scheinbar fest etablierte gesellschaftliche Verabredung. Aber heute müßte man – nach allem, was man Tag für Tag erlebt oder im Fernsehen sieht – sagen: Der Kunde ist der Dumme. Er wird vom Handel nach Strich und Faden ausgebeutet und betrogen, man dreht ihm für gutes Geld die billigsten Sachen an und rühmt sich dessen sogar noch. Eine riesige Industrie, die Werbebranche, ist einzig dazu da, um Schund oder pure Selbstverständlichkeiten künstlich zu verschönen oder als sensationelles Weltereignis hinzustellen.

Parallel dazu hat sich eine ähnlich riesige Entlarvungsindustrie etabliert, die den Werbeträgern „die Maske vom Gesicht reißt“ und den armen Kunden via „Fakten-Check“ darüber belehrt, was wirklich in den Sachen steckt und mit welchen miesen Tricks sie übers Ohr gehauen, ja in manchen Fällen regelrecht vergiftet werden. Ganze Fernsehabende sind, vor allem am Wochenanfang, der Kundenbelehrung über die üblen Praktiken von Handel und Industrie gewidmet, und der potentielle Zuschauerkunde fragt sich ratlos: Wer hat nun recht, die lauten Werbefuzzis oder die vorlauten Fakten-Checker in den Medien?


Mit der Macht der Kunden ist es also nicht weit her. Er kann aber auch nicht als leicht, allzu leicht verführbarer Trottel am Ende der Handelskette definiert werden, dagegen spricht allein schon die überwiegend respektvolle Geschichte, die der Begriff des Kunden im Laufe der Zeiten erfahren hat. Das Wort heißt im Deutschen ja, mit einem anderen Artikel versehen, „Nachricht“, „Mitteilung“, und genau das war – wie die Etymologie herausgefunden hat – von Anfang an so gemeint. „Der“ Kunde war für die Händler im Mittelalter automatisch  auch „die“ Kunde, brachte nicht nur Wünsche vor, sondern lieferte auch notwendige Belehrung.

Später fächerte sich der Begriff auf, es gab Laufkunden und Stammkunden, mit denen man langfristige Verabredungen und sogar Verträge aushandelte. Die Kunden von Ärzten wurden zu „Patienten“, die Kunden von Rechtsanwälten, Notaren oder Steuerberatern zu „Klienten“. Stets aber wurde das Gleich-zuGleich und eine gewisse Intimität und Vertrautheit des persönlichen Umgangs gewahrt. Der Kunde war nie ein Objekt, mit dem man überheblich herumspielte, blieb in jedem Fall und in beiden Richtungen (sogar bei Kaufverhandlungen in arabischen Basaren) Geschäfstpartner auf Augenhöhe. 

Erst das moderne Massenzeitalter mit seiner Großproduktion und seinen gnadenlosen Konkurrenz- und Übernahmekämpfen hat dem (zugegebenermaßen nie unheiklen) Gleichgewicht zwischen Kunde und Händler ein Ende gesetzt. Beide Seiten sind unsicher geworden. Das liegt aber nicht, wie Frank Trentmann meint, an der Macht der Dinge, die freilich  auf horrende Weise verfügbar und erwerbbar geworden sind, sondern am durchaus menschlichen Begehren und am Geschmack der Kunden, der immer schwerer zu bedienen ist. Es entsteht gewissermaßen eine Angebotsfülle ohne Bedienungsanleitung.

Auf der Kundenseite erzeugt das Ratlosigkeit und auf Dauer Zorn. Man wird, auch bei im Ruf der Gediegenheit stehenden Händlern, kaum noch persönlich, geschweige denn präzise und charmant bedient. Man stolpert endlose Angebotsregale entlang, in denen Dutzende von faktisch völlig gleichen Waren ausliegen, und man soll nun alleine entscheiden, was das Beste für einen ist. Die Produkte sind farbenreich verpackt, aber ihre Aufschriften, inklusive der Gebrauchsanweisungen und der Warnungen vor Nebenwirkungen, in schlechtem Deutsch verfaßt, einer Mischung aus Fachjargon und Übersetzung aus dem Koreanischen.


Dazu kommt, wie gesagt, noch die mediale Öffentlichkeit mit ihren Fakten-Checks in Radio und Fernsehen, die den Topf der Ratlosigkeit und des Zorns zum Überlaufen bringen. Wer sich ihnen aussetzt, muß nur allzu oft nichts weniger als den Eindruck gewinnen, als sei unsere ganze Pharmaindustrie einschließlich der Arztpraxen und Apotheken  eine einzige Mafia-Verschwörung, welche zum Zwecke der Profitmaximierung ihre ganze Käuferschaft krank macht. Nicht die Spur mehr vom Vertrauensverhältnis zwischen Kunde und Händler, wie es doch die Etymologie so schön nahelegt.

Nicht zuletzt Stil und Qualität der Politik in westlichen Demokratien leiden darunter. Die meisten Politiker tragen dort nicht mehr mit präzisen Worten ihre Überzeugungen oder die der von ihnen vertretenen Klientel vor, sondern sie wittern nur noch in die „mediale „Öffentlichkeit“ hinaus, um auch noch das letzte bißchen „Zeitgeist“ aufzuschnappen und sich damit wichtig zu machen. Pankraz erinnert das an Machiavelli, der schon in der Renaissancezeit die Politiker in „Löwen“ und „Füchse“ aufteilte. Beide würden gebraucht, konstatierte er, doch die Löwen seien in jeder Lage die besseren Politiker, vermutete er.

Wenn die Füchse mit ihren langen Ohren und ewig witternden Nasen die Oberhand gewinnen, sagte der große florentinische Politikkenner Niccolò Machiavelli, sei das schlecht für die Politik, in welchen Zeiten und Umständen auch immer. Und in der Tat: Der Wähler wird ratlos und schließlich richtig zornig wie der im Stich gelassene Kunde beim Abwandern der schier endlosen, strikt digitalisierten Angebotsreihen mit ihren verlogenen, wenn auch kaum verständlichen Werbetexten.

Gute Wähler wie gute Kunden wollen nicht unbedingt Könige sein, aber sie wollen es wenigstens konkret haben. Solide Ware statt bloßem Geschwätz.