© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Suche nach dem Schlupfloch
Migration via Italien (Teil 3): Ob Rom oder Verona – Tröpfchenweise schlagen sich Migranten weiter nach Norditalien durch
Hinrich Rohbohm

Militärjeeps vor dem Kolosseum, postierte Soldaten vor öffentlichen Gebäuden. Uniformierte mit Maschinenpistolen, die vor dem Bahnhof Termini patrouillieren. Keine Frage: Das Gesicht Roms hat sich seit 2015 verändert. Seit jenem Jahr, in dem die Migrationskrise ihren Höhepunkt erreichte und Italien in ein Pulverfaß verwandelte. Polizisten stehen am Bahnhofseingang, führen stichprobenartig Ausweiskontrollen durch. 

Der Zugang zu den Bahnsteigen ist ohne gültige Fahrkarte inzwischen nicht mehr möglich. Sicherheitsschleusen versperren den Weg. Sie öffnen sich nur durch Vorzeigen des Tickets. „Die Schleusen wurden 2015 errichtet“, erzählt eine Sicherheitsbedienstete gegenüber der JF. Eine Reaktion auf die Situation von vor zwei Jahren, als sich Migranten zu Dutzenden ohne Fahrausweis in die Züge Richtung Norden setzten. 

Verschärfte Kontrollen setzen Migranten zu 

Nachts, wenn die Geschäfte rund um Termini schließen, übernachten viele von ihnen auf Pappen oder Isomatten rund um den Bahnhof. Einige sind in Schlafsäcke geschlüpft, andere liegen mit freiem Oberkörper auf ihrem Hab und Gut. Tagsüber versammeln sie sich  in der Nähe des Haupteinganges von Termini, nahe der Via Cavour. Ein Ort, an dem der Drogenhandel floriert. Und dessen Umfeld 2015 noch als Anlaufstelle für die Weiterreise Richtung Norden diente. Angesichts verschärfter Kontrollen ist es hier weniger betriebsam geworden.

Dennoch brodelt es in Rom. In der Nähe des Hauptbahnhofes hielten 800 Migranten aus Äthiopien und Eritrea jahrelang ein Wohngebäude besetzt. Eine alternative Unterbringung seitens der Stadt akzeptierten sie nicht. Als die Polizei das Haus Ende August räumen will, brechen Straßenschlachten aus. Die Migranten attackieren die Beamten mit Steinen und Glasflaschen, die Polizei reagiert mit Wasserwerfern und Schlagstöcken. 

Tröpfchenweise schlagen sich Migranten weiter nach Norden durch. Andere Zuwanderer befinden sich längst dort, wurden von den Behörden im Zuge der dezentralen Unterbringung bereits in Norditalien untergebracht. Sie treffen sich in Städten wie Verona, die sich auf der Hauptroute Richtung Brenner befinden. Hier, am Bahnhof Porta Nuova, herrscht unter den zahlreichen Migranten ein geschäftiges Treiben. 

Schwarzafrikaner laufen mit ihren Mobiltelefonen am Ohr unentwegt Richtung Fahrplananzeige in der Bahnhofshalle. Sie studieren die Abfahrtzeiten der Züge, laufen wieder hinaus auf die davor befindliche Piazza, wo sich zahlreiche Migranten versammeln. Sie steuern eine der vielen Gruppen an, die sich um die Sitzbänke versammelt haben. Diskussionen folgen. Einer dieser Handy-Männer macht sich zwanzig Minuten später erneut auf Richtung Bahnhof. Wir folgen ihm. Der Schwarzafrikaner steuert einen Bahnsteig an, auf dem in Kürze ein Regionalzug Richtung Brenner abfahren wird. 

30 Migranten sitzen in den Waggons. Polizisten kommen auf den Bahnsteig, verteilen sich vor den Einstiegstüren des Zuges, durchsuchen dann die Abteile. Sie holen Migranten aus den Bahntoiletten. Ein weiterer Schwarzafrikaner springt zuvor blitzschnell aus dem Zug, rennt über die Gleise, hinüber auf einen anderen Bahnsteig, flieht über die Treppen hinunter ins Gemenge. Die Suche nach dem Schlupfloch gen Norden beginnt von vorn.

Viele Migranten sind an ihrer verschmutzten Kleidung, ihren Plastikbeuteln und abgewetzten Rucksäcken schnell zu erkennen. Immer wieder suchen einige von ihnen ein im Bahnhof befindliches Textilgeschäft auf, kaufen sich dort neue Kleidung. T-Shirts, Hosen, Jacken. Später treffen wir sie am Bahnsteig. Begleitet von einem der Handy-Männer, der sich immer wieder nach allen Seiten umblickt. 

Alternativrouten in Richtung Schweiz und Frankreich

Der Eurocity Richtung München fährt in wenigen Minuten ein. Nur wenige Migranten sind im Zug. Längst hat sich herumgesprochen: Am Brenner wird kontrolliert. Und so warten viele der Migranten. Sie kommen aus den kleineren Orten, treffen sich mit Landsleuten auf Plätzen und in Parks in unmittelbarer Nähe der Bahnhöfe von Verona, Trient oder Bozen. Sie warten auf den Ausgang ihres Asylverfahrens. Oder auf eine günstige Gelegenheit für eine Weiterfahrt nach Norden. 

Andere weichen inzwischen nach Westen aus. Sie reisen nach Mailand, einem weiteren Knotenpunkt auf der Migrationsroute. Von dort geht es weiter in Richtung Schweiz. Oder an die italienisch-französische Grenze, wo sich in dem Ort Ventimiglia eine neue Anlaufstelle für Migranten entwickelte, deren Ziel Frankreich oder später sogar Großbritannien ist. Im Juni hatten sich hier Hunderte Sudanesen aufgemacht, um illegal die Grenze nach Frankreich zu passieren. Die Polizei konnte sie nur mit Tränengas zurückhalten. Anfang August durchbrachen 150 Zuwanderer die Polizeisperren, gelangten so ins Nachbarland. 

Unterdessen ist in Verona die Nacht hereingebrochen. Auf der Piazza vor dem Bahnhof herrscht noch immer ein reges Treiben. Sämtliche Parkbänke sind von Schwarzen besetzt. Plötzlich ertönen Schreie. Lautstarke Wortgefechte. In einer der schwarzafrikanischen Gruppen ist Streit ausgebrochen. Die Lage droht zu eskalieren, eine Schlägerei scheint sich anzukündigen. Plötzlich betreten mehrere junge Nordafrikaner die Szenerie. Die Männer genießen offenbar Respekt unter den Schwarzen. Kurzerhand ist es wieder ruhig. 

Die Nordafrikaner tauchen auch am nächsten Tag wieder auf. Eher unauffällig agieren sie im Hintergrund. Gelegentlich betreten sie den Bahnsteig, gehen an den Handy-Männern vorüber. Kaum zu bemerken, kommunizieren sie mit ihnen, geben Zeichen, reden im Vorbeigehen nur wenige Sätze, machen einen kontrollierenden Eindruck. Handelt es sich bei ihnen um Schlepper? 

Immer wieder blicken sie zu einem schwarzafrikanischen Pärchen hinüber, scheinen sich vergewissern zu wollen, daß die beiden auch tatsächlich in dem Zug Richtung Brenner mitfahren. Zuvor hatte das Paar angeregt mit einem der Handy-Männer diskutiert, der zuvor mehrfach den Bahnsteig ausgekundschaftet hatte. Dann setzt sich der Zug mit dem Paar in Bewegung. Richtung Brenner.