© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Rest und Kohl-Ära
Rußlanddeutsche: Aussiedler aus der früheren Sowjetunion waren die treuesten der treuen CDU-Wähler / Immer mehr wenden sich ab
Michael Paulwitz / Christian Vollradt

Von allen konservativen Stammwählergruppen, die die Unionsparteien durch Nichtachtung und Linkswende vergrault haben, waren deutschstämmige Aussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und aus Osteuropa lange Zeit eine der treuesten und der zahlenstärksten. Aber die Rußlanddeutschen sind für die Union keine sichere Bank mehr. Manche, vor allem unter den Jüngeren, wenden sich auch wieder linken Parteien zu, einige suchen ihr Heil in neugegründeten Klientelparteien wie der „Einheit“. Doch eine wachsende Zahl von Rußlanddeutschen hat bei der AfD eine neue politische Heimat gefunden.

Das Pforzheimer Wahlergebnis der baden-württembergischen Landtagswahl im Mai 2016 setzte ein deutliches Ausrufezeichen. Fast jeder zweite im vor allem von Rußlanddeutschen bewohnten Aussiedlerviertel Haidach gab der AfD seine Stimme. Die Alternative holte das Direktmandat vor der CDU, die zwanzig Prozentpunkte verlor.

„Auf Freiheit und Sicherheit für die Kinder gehofft“ 

Eine Niederlage mit Ansage. Maßgeblich dazu beigetragen hat Waldemar Birkle. Beharrlich hat der 44jährige, der 1990 aus Uralsk in West-Kasachstan, nahe der russischen Grenze, nach Deutschland gekommen war, auf dem Haidach für die AfD geworben. 2013 war er eingetreten, nach der Kommunalwahl 2014 zog er in den Stadtrat ein. „Anfangs war es schwer, jetzt kommen die Leute von selbst auf uns zu“, erzählt er im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Jetzt kämpft er um das Direktmandat für den Bundestag. Das sei schwieriger, meint er, weil der Wahlkreis größer ist und auch das Umland einschließt. Aussichtslos ist es nicht.

Die AfD stößt in ein Vakuum, das die Union schon länger hinterlassen hat. „Die CDU ist fremdgegangen“, sagt Birkle im TV-Talk und meint damit den Linkskurs der Merkel-Partei. In der Ära Kohl war die Dankbarkeit der Rußlanddeutschen grenzenlos: Kohl hatte sich dafür eingesetzt, daß die Volksdeutschen in die Heimat der Väter zurückkehren konnten. 

Kohls volkstümliche Art kam bei vielen Rußlanddeutschen mit ihrem damals schon idealisierten Deutschlandbild an. Auch Birkle hat 1994, bei seiner ersten Bundestagswahl, Kohl gewählt. Die SPD war unten durch, besonders seit ihr damaliger Vorsitzender Oskar Lafontaine 1996 seine Anti-Aussiedler-Kampagne mit dem bitteren Satz krönte, ein verfolgter Afrikaner sei ihm lieber als ein bedrängter Rußlanddeutscher. Dieses Gefühl ist wieder da, seit Angela Merkel im Herbst 2015 die Grenzen öffnete und die „Willkommenskultur“ ausrief. Für die „Heimkehrer“ – die Bezeichnungen „Aussiedler“ oder gar „Spätaussiedler“ hören viele nicht so gerne – gab es keine „Willkommenskultur“. Sie haben sich angepaßt, gelernt, hart gearbeitet, sich den deutschen Traum von Eigenheim, Auto und Familie erfüllt, auch wenn sie von den Alteingesessenen anfangs vielfach abgelehnt wurden. Auf dem Pforzheimer Haidach mögen heute noch russische Läden und Geschäfte das Bild bestimmen und viele untereinander nach wie vor überwiegend russisch sprechen, die Arbeitslosigkeit ist dort eine der niedrigsten im ganzen Südwesten.

Die Zeiten, in denen Rußlanddeutsche wie selbstverständlich zu zwei Dritteln und mehr CDU wählten, sind vorbei. Die Entfremdung begann lange bevor die AfD die Bühne betrat. Daran hat auch die Tatsache nicht viel geändert, daß seit 2013 mit dem in Kasachstan geborenen Heinrich Zertik ein rußlanddeutscher Spätaussiedler für die nordrhein-westfälische CDU im Bundestag sitzt. Die meisten Rußlanddeutschen sind traditionell und christlich eingestellt und hängen dem klassischen Familienbild an. Gender-Gaga, Frühsexualisierung und „Ehe für alle“ machten sie mißtrauisch, viele gingen gar nicht mehr wählen.

„Rußlanddeutsche und AfD passen perfekt zusammen“, sagt Eugen Schmidt gegenüber dieser Zeitung. Für sie seien Themen wie die Migrationskrise, Islamisierung, innere Sicherheit und die Bewahrung traditioneller und christlicher Werte wichtig, die auch viele Deutsche bewegten, die aber nur die AfD in den Mittelpunkt stelle. Viele, die vorher unzufriedene Nichtwähler waren, habe man damit ansprechen können.

Der 41jährige Diplom-Informatiker aus Ust-Kamenogorsk in Kasachstan hat bereits im vorigen Sommer das Netzwerk „Rußlanddeutsche für die AfD NRW“ gegründet. Auch soziale Fragen spielten eine Rolle: „Viele Rußlanddeutsche haben ein ganzes Leben lang gearbeitet und müssen doch mit kümmerlichen Renten auf Sozialhilfeniveau zurechtkommen.“

Es gehe aber keineswegs nur um Materielles, betont Waldemar Birkle: „Die Rußlanddeutschen haben, wie alle Deutschen, Angst um die Zukunft. Sie kamen nach Deutschland, weil sie auf Freiheit und Sicherheit für ihre Kinder hofften“, meint Birkle, selbst Familienvater mit drei Kindern: „Jetzt erleben sie, wie hier ähnliche Verhältnisse einkehren wie in der Sowjetunion, wo man aufpassen mußte, was man sagt, wenn man nicht regierungskonform war.“ Ein Mitstreiter sei vom Arbeitgeber vorgeladen und zur Distanzierung von der AfD aufgefordert worden.

Union versucht, verlorenen Boden wieder gutzumachen

Wer die Heimat verlassen hat, weil er als Deutscher Bürger zweiter Klasse war, reagiert empfindlich auf neue Diskriminierungserfahrungen. Etwa wenn Verwandte aus Rußland nicht oder nur über hohe bürokratische Hürden nach Deutschland kommen können, aber illegale Einwanderer, die ihren Paß einfach wegwerfen, mit offenen Armen empfangen werden, erzählt Birkle.

Auch daß die AfD sich klar gegen die Rußland-Sanktionen positioniert, kommt gut an. „Rußlanddeutsche sind fleißig, viele haben gute Stellen bei Unternehmen mit guten Wirtschafsbeziehungen zu Rußland“, sagt Birkle, selbst für den GUS-Vertrieb bei einem Maschinenbauer zuständig. Sie spürten, daß die Sanktionen ihren Betrieben schadeten und Entlassungen drohten. Man habe auch nichts gegen Rußland an sich, „wir haben unter der Sowjetunion gelitten wie viele Russen auch“.

Mit Werbematerial in russischer Sprache und Kampagnen in den sozialen Medien wirbt die AfD intensiv um diese Zielgruppe. Waldemar Birkle ist inzwischen einer der Sprecher einer neugegründeten bundesweiten Interessengemeinschaft der Rußlanddeutschen in der AfD. Anderthalb Millionen Rußlanddeutsche sind in Deutschland wahlberechtigt, 200.000 in Baden-Württemberg. Ein Potential, das bei der Bundestagswahl entscheidende Prozente bringen kann. Wobei einschränkend gilt: die Wahlbeteiligung der Aussiedler ist bisher eher niedrig gewesen. 

Spät hat das auch die Union gemerkt und versucht, verlorenen Boden wieder gutzumachen. Die Berliner CDU hat schon 2015 ein „Landesnetzwerk Aussiedler“ gegründet. Im Frühjahr warb die CSU nach AfD-Vorbild mit russischsprachigen Anzeigen, machte aber nach heftiger Kritik einen Rückzieher. Ende August zog der baden-württembergische CDU-Landeschef und Innenminister Thomas Strobl nach mit der Gründung eines „Landesnetzwerks Spätaussiedler und Heimkehrer“ unter Vorsitz von Parteifreund Ernst Strohmaier, Bundesvize der Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland (LMDR). Programmatisch haben rußlanddeutsche Politiker in der Union allerdings nicht viel in der Hand, um dem AfD-Angebot Paroli zu bieten. „Durch die Gründung eines Netzwerks wird die CDU nicht konservativer“, kommentiert AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen. 

Indirekt bestätigt das sogar mancher aus der Union. Das Netzwerk der Aussiedler dort sei allerdings weniger eine Reaktion auf die AfD, als vielmehr Ergebnis eines mühsamen Kampfes um die eigene Position in der Partei, meint ein führendes Mitglied gegenüber der jungen freiheit. Seiner subjektiven Erfahrung nach lägen die Gründe für die Abwanderung von der Union seit 2015 in Aussiedlerkreisen zu 80 bis 90 Prozent in der unkontrollierten Zuwanderung. 50 bis 60 Prozent begründeten es mit ihrer Ablehnung der Homo-Ehe, 20 bis 30 Prozent mit den Sanktionen gegen Rußland. Bis 2014 habe die Union unter Rußlanddeutschen sogar noch mit Angela Merkel punkten können; seitdem werde die Partei höchstens trotz, aber nicht mehr wegen der Kanzlerin gewählt, meint der CDU-Mann. Seiner Meinung nach sei es allerdings ein schwerer strategischer Fehler der AfD gewesen, keinem Rußlanddeutschen einen sicheren Listenplatz zu verschaffen.

Einen aussichtsreichen Listenplatz hat auch Waldemar Birkle nicht. Dafür bekam er im Wahlkampfendspurt nochmals kräftigen Rückenwind von der Bundespartei: Der erste und einzige Auftritt der prominenten CDU-Aussteigerin Erika Steinbach für die AfD in diesem Bundestagswahlkampf fand in der Hochburg Pforzheim statt; die beiden Spitzenkandidaten Alice Weidel und Alexander Gauland traten ebenfalls auf, Bundessprecher Jörg Meuthen moderierte die Veranstaltung im Congress-Centrum vor 1.600 Besuchern, unter ihnen zahlreiche Rußlanddeutsche. „Wir können uns Feindschaft zum christlichen Rußland nicht leisten“, beschwor Gauland die Gemeinsamkeiten im Angesicht einer „neuen islamischen Invasion“. Steinbach betonte, die Aussiedler hätten „am längsten dafür bezahlt, daß sie Deutsche sind“, und der deutsche Staat habe sie trotzdem schlechter behandelt als die heutigen Migranten. Ein Heimspiel für die langjährige Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV) mit Besucherzahlen, die bei den Etablierten manchen neidisch werden lassen. 

Ihr Nachfolger an der Spitze des BdV, der CSU-Bundestagsabgeordnete Bernd Fabritius, hat unterdessen der AfD vorgeworfen, sie diskriminiere mit ihrer Forderung im Wahlprogramm, bei „erheblicher Kriminalität innerhalb von zehn Jahren nach Einbürgerung“ den Betreffenden die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen, (auch) Spätaussiedler. 

Sollte es doch mit dem Direktmandat für Waldemar Birkle klappen, wäre auch im nächsten Bundestag ein rußlanddeutscher Abgeordneter. Die Chancen für CDU-Mann Heinrich Zertik (Listenplatz 48) stehen nicht zum besten.