© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

Ungesühnte Massenmorde
Robert Winter unternimmt den Versuch einer Bilanz der sowjetischen Verbrechen mit vielen Millionen Toten und ihrer Tatorte unter Lenin und Stalin
Dieter Farwick

In der Zeit zwischen 1917/18 – Errichtung des Sowjetsystems – und 1953 – dem Tode Stalins – sind unter Lenin und Stalin mindestens zwanzig Millionen Sowjetbürger und Angehörige religiöser und ethnischer Minoritäten ermordet und in der Regel anonym in Massengräbern verscharrt worden. Nach 1953 ging das Morden in „Arbeitslagern“ weiter. Besonders betroffen waren die Ukrainer, die etwa sechs Millionen Tote zu beklagen haben. Aber auch zahlreiche Deutsche waren unter den Toten.

In seinem Buch „Massenmord unter dem Sowjetstern“ liefert Robert Winter eine grauenhafte Dokumentation. Noch heute werden unter anderem bei Bauarbeiten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion Massengräber entdeckt, deren Leichen nach Verwesung nur schwer anhand von Bekleidungsstücken, Schuhwerk und Uniformteilen zu identifizieren sind. Feststellen kann man jedoch die überwiegende Todesursache: Tod durch Genickschuß – auch bei Frauen und Kindern. Zeitzeugen der einheimischen Bevölkerung helfen mit Hinweisen bei der Entdeckung von Massengräbern.

Kuropaty gilt sogar als „größte Grabstelle der Welt“

Die Massenmorde auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion werden unverändert von offiziellen Stellen in Rußland juristisch nicht verfolgt, obwohl es fast in jeder Familie Opfer und Täter gegeben hat. Jahrelang war es der Sowjetunion gelungen, die Ermordung von Tausenden polnischen Offizieren in Katyn im Jahre 1940 der deutschen Wehrmacht in die Schuhe zu schieben was auch von deutschen Historikern lange Zeit nicht entschieden zurückgewiesen wurde. Eine besonders grausame Entdeckung: „In einem Wald bei Kuropaty, nahe Minsk (Weißrußland) hatten Bürgerrechtler 1988 auf einem 10 bis 15 Hektar großen Terrain ein Gräberfeld aufgefunden. Die insgesamt 510 Massengräber bargen die Überreste von etwa 100.000 Menschen (weißrussische Quellen sprechen von einer Viertelmillion Opfer) – Weißrussen, Litauer, Esten, Letten und Juden.“ Kuropaty, von dem die Sowjetpropaganda behauptete, es befänden sich dort „Opfer der faschistischen deutschen Okkupation“, wird mittlerweile sogar als die „größte Grabstelle der Welt“ bezeichnet.

Zu einem Auftritt des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck schreibt Robert Winter: „Bezeichnend für die einseitige und verklärte Geschichtsschreibung ist die Ehrung der gefallenen Sowjetsoldaten anläßlich des 75. Jahrestages der Befreiung durch Bundespräsident Gauck. Der ehemalige DDR-Pfarrer und Bürgerrechtler ehrte die ‘ruhmreichen Sowjetsoldaten’, ohne die unter Stalin begangenen Massenverbrechen in der Sowjetunion, in Polen, in Karelien, in den baltischen Staaten und anderswo auch nur zu erwähnen“.

Das Buch von Robert Winter knüpft an das „Das Schwarzbuch des Kommunismus“ des französischen Historikers Stéphane Courtois an, dessen Publikation 1997 Massenmorde, die weltweit im Namen des Kommunismus geschehen sind, einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte.

Der Vorteil des Buches von Winter sind neue Informationen über Tatorte und Tatgeschehen, die die Sowjetunion seit Lenin zu verantworten hat. Allerdings fehlt heute eine effektive gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Vergangenheit in vielen Staaten der ehemaligen Sowjetunion und im heutigen Rußland. Anders wäre das Wiedererstarken des Ansehens des Massenmörders Josef Stalin wohl nicht möglich geworden. Das Buch ist ein Muß für die Menschen, die sich mit diesem dunklen Kapitel der sowjetisch-russischen Geschichte befassen wollen.






Dieter Farwick, Brigadegeneral a. D., ist Publizist. Sein jüngstes Buch „Kleinkriege – Die unterschätzte Kriegsform“ erschien 2016 im Gerhard Hess Verlag.

Robert Winter: Massenmord unter dem Sowjetstern 1917–1953. Tatorte. Tatgeschehen. Osning Verlag, Bielefeld 2017, broschiert, 152 Seiten, 16,80 Euro