© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

Im Dienst der Willkommenskultur
Zeitgenössische Kunst: Nach einhundert Tagen endet am Sonntag in Kassel die documenta 14
Birgit Sauer

Alle fünf Jahre rückt Kassel mit dem internationalen Kunst-Zirkus der documenta in den Mittelpunkt der internationalen Kulturszene. 1955 erstmals auf Initiative von Arnold Bode veranstaltet und seit der dritten Schau untrennbar mit dem Namen des Aktionskünstlers Joseph Beuys verbunden, schließt nach einhundert Tagen jetzt am Sonntag die 14. Ausgabe ihre Pforten.

Der künstlerische Leiter Adam Szymczyk trat mit dem Versprechen an, die documenta 14 zur politischsten der Ausstellungsreihe zu machen. Dazu gehörte erstmalig ein zweiter Ausstellungsort. Von April bis Juli eröffnete die documenta in Athen, als ein Akt der Solidarität für die krisengeschüttelte „Wiege der Demokratie“, aber auch als eine bewußt anti-identitäre Absage an eine Tradition, für die die documenta so selbstverständlicher Teil von Kassel ist wie das Wahrzeichen der Stadt, die barocke Herkules-Plastik im Kasseler Bergpark. Zahlreiche Exponate beschäftigten sich vor allem mit der Dritte-Welt-Problematik und der sogenannten „Flüchtlingskrise“, vornehmlich aus der Perspektive der Migranten.

Solschenizyn neben „Fifty Shades of Grey“ 

Das spektakulärste Kunstwerk und Publikumsrenner der documenta 14 ist zweifellos der „Parthenon der Bücher“ der Argentinierin Marta Minujín, ein originalgroßer Nachbau des Parthenons der Athener Akropolis in Form eines Stahlgerüsts, vollständig verkleidet mit gespendeten Büchern, die mindestens einmal irgendwann einem Verbot unterlagen. Die Wahl des Standorts fiel bewußt auf den Friedrichsplatz. Hier fand im Mai 1933 die Bücherverbrennung der Kasseler Nationalsozialisten statt. Damit wird der auf eine totalitäre Vergangenheit fixierte Charakter dieses Kunstwerks offenbar, unfähig einen Blick dafür zu entwickeln, welchen Gefährdungen heute unbequeme Literatur in demokratischen Systemen ausgesetzt ist. Und nur der Spiegel bringt es fertig, über diesen Kunsttempel der verbotenen Bücher wohlwollend zu berichten und kurz darauf die Gedankensammlung „Finis Germania“ von Rolf Peter Sieferle in seiner Bestsellerliste zu eliminieren, weil ihm dessen Inhalt mißfällt.

Unter den am Parthenon angebrachten Büchern finden sich nicht nur Bücher wie das in der Sowjetunion verbotene „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn, sondern auch solche von geringem literarischen Wert wie der Sadomaso-Thriller „Fifty Shades of Grey“, nur weil sie in irgendwelchen Bibliotheken auf die Verbotsliste kamen. Ob die durch die Berichterstatterin geleistete Bücherspende „Die große Verschwulung“ von Akif Pirinçci, dessen sämtliche Bücher in einer konzertierten Aktion von Buchhandel und Verlagen boykottiert werden, Aufnahme in den Parthenon fand, konnte bis Redaktionsschluß nicht verifiziert werden.

Ein geradezu sarkastisches Ensemble bilden die zum Schutz des Friedrichsplatzes errichteten Betonbarrieren an der vorbeiführenden Hauptverkehrsstraße, eine nach den letzten islamistischen Lkw-Anschlägen gängige Sicherungsmaßnahme öffentlicher Veranstaltungen, mit der am Portikus der Kunsthalle Friedericianum angebrachten Inschrift „BEINGSAFEISSCARY“ (Sicher zu sein ist beängstigend), ein Beitrag der türkischen Künstlerin Banu Cennetoglu.

Das Niveau des politischen Anspruchs der documenta kritisierte der Kasseler Künstler Friedel Deventer als bestimmt von „klaren Ressentiments gegen Deutschland“ und einer „schrägen Weltsicht“. Beispielhaft führte er in der Lokalpresse die Schrumpfköpfe von Sergio Zevallos an, die den Politikerinnen Ursula von der Leyen und Christine Lagarde sowie dem EZB-Banker Jens Weidmann nachempfunden sind: „Ministerin Ursula von der Leyen wird zum Haßobjekt degradiert, aber wo sind denn auf der d14 kritische Bilder von Erdogan, Assad, Putin oder Trump? Ich finde das skandalös.“ Einen Affront sah er in dem Wandbild von Piotr Uklanski, das Joseph Beuys in eine Reihe mit NS-Größen stellt. Als Zumutung empfand Deventer die Videoinstallation der Regina José Galindo, die darin in einer Endlosschleife einem offenkundig deutschen Panzer davonlief.

Agitation gegen die traditionelle Familie

Dabei ist diese Ausrichtung der politischen Schlagseite ebensowenig überraschend wie an anderen Stellen die Überstrapazierung des Kunstbegriffs und seiner impliziten „Freiheit der Kunst“. Stellvertretend hierfür steht die Videoinstallation von Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor, bei der es offenbar nur darum geht, die Geschmacksgrenzen des Publikums auszutesten: Unkommentiert werden die Bekenntnisse von Issei Sagawa vorgeführt, einem Japaner, der sich 1981 seinen größten Wunsch erfüllte, die kannibalistische Verspeisung einer Europäerin. Der Standort der makabren Installation: eine frühere Fabrik für Tofu, einem unter Vegetariern und Veganern beliebten Fleischersatz.

„Deproduction“ – also die Umkehrung der menschlichen Vermehrung durch Fortpflanzung – war wohl eine der bizarrsten Performances der documenta (JF 30/17). Der als ein Zwitterwesen aus Mann und Frau auftretende Künstler und Elektromusiker Terre Thaemlitz stellte darin in bearbeiteten Pornofilmen den aus seiner Sicht größten Feind der Demokratie vor: die traditionelle Familie, ein „Ort der sexuellen Gewalt und Unterdrückung“. Sein Gegenmodell: die Abschaffung der Ehe, uneingeschränkte Freigabe der Abtreibung. Ist das noch Kunst oder nur billigste Agitprop? Thaemlitz konnte in diesem Sommer ebenso die evangelische Christuskirche in Köln als Bühne für seinen „Deproduction“-Auftritt nutzen.

Zum Skandal der documenta 14 entwickelte sich „Auschwitz on the Beach“, eine Performance, in der eine Gruppe italienischer Künstler die europäische Migrationspolitik mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung verglich. Nach zahlreichen Protesten aus Politik und seitens jüdischer Organisationen wurde die umstrittene Veranstaltung kurz vor ihrer Aufführung von der Ausstellungsleitung abgesagt. Es sei keineswegs die Absicht gewesen, den Holocaust zu relativieren, so documenta-Leiter Szymczyk.

Doch was bleibt nun von der documenta 14? Auf alle Fälle jene auf Dauer angelegten Kunstwerke, die wie die 7.000 Eichen von Joseph Beuys mit ihren Basaltstelen das Stadtbild prägen. Favorit ist der über 16 Meter hohe Obelisk des amerikanischen Künstlers nigerianischer Herkunft Olu Oguibe. An den vier Seiten dieser Stele ist das Bibelwort aus Matthäus 25:43, „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“, jeweils in den Sprachen Deutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch aufgetragen. Die Hessisch/Niedersächsische Allgemeine jubelte: „Für eine weltoffene Stadt wie Kassel kann es kaum ein passenderes Kunstwerk geben.“ In ihrem Ursprung sind Obelisken mit ihren Weih-inschriften Bestandteile altägyptischer Tempelarchitektur. Damit dürfte „Weltoffenheit“ endgültig als unreflektierter, zivilreligiöser Wert auch seine symbolische Überhöhung gefunden haben: ein phallischer Fetisch – Kunst im Dienst der Willkommenskultur.

An seinem gegenwärtigen Standort auf dem Königsplatz ist der Obelisk nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt, an der einst ein documenta-Kunstwerk stand, das als Politikum über die Stadtgrenzen hinaus Beachtung fand. Der 1992 errichteten, überdimensionalen „Treppe ins Nichts“ von Gustav Lange schlug von Beginn an die aggressive Ablehnung weiter Teile der Bürgerschaft entgegen, in der das Objekt als „Elefantenklo“ verspottet wurde. Vielen sahen darin ein unbeliebtes Mahnmal obrigkeitlicher Machtarroganz der sozialdemokratischen Stadtregierung, die den Ankauf forciert hatte. Kunst, die am Ende entsorgt werden konnte: Nach einem langen politischen Streit und einem Prozeß über das Urheberrecht des Künstlers an seinem Werk wurde im August 2000 die Königsplatztreppe auf Anweisung des damaligen Oberbürgermeisters Georg Lewandowski (CDU) in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgerissen.