© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

Furcht vor dem Flächenbrand
Birma: Der Konflikt mit der muslimischen Minderheit setzt die Regierung Suu Kyi unter Druck
Marc Zoellner

Ein Video aus Pakistan findet derzeit ganz besondere Verbreitung in islamistischen Kreisen des sozialen Netzwerks Facebook. Darauf zu sehen: Radikalislamische Paschtunen in traditionellen Gewändern und Tarnjacken, mit Schnellfeuergewehren, die ihre Väter und Söhne umarmen. Im Hintergrund spielt ein Naschid, eines der im Islam weit verbreiteten Kampflieder, das von der Herrlichkeit des Dschihad sowie jener der Mudschaheddin erzählt. 

Es ist eine Szene mit ganz besonderer Stoßrichtung: Denn hier, so der unbekannte Urheber des Videos, ziehen pakistanische Islamisten in den Rakhaing-Staat, die westlichste der fünfzehn Provinzen Birmas, wo der Konflikt zwischen der religiösen Minderheit der Rohingya, denen der birmanische Staat seit Jahrzehnten Staatszugehörigkeit und Bürgerrechte verwehrt, sowie der birmanischen Regierung seit August dieses Jahres zu eskalieren droht.

Militante Rohingya-Miliz heizte den Konflikt an

Ob authentisch oder nicht, fest steht: Derartige Drohungen wecken selbst jenseits der birmanischen Grenzen Ängste – insbesondere in Indien und Bangladesch, wo sich neben Pakistan und Saudi-Arabien mittlerweile die größten Diasporagemeinden der Rohingya etabliert haben.

 Allein in Bangladesch lebten bis diesen Sommer bereits eine halbe Million birmanische Flüchtlinge in mehreren großen Flüchtlingslagern. In den vergangenen zwei Wochen kamen der Nachrichtenagentur Reuters zufolge noch einmal dreihunderttausend Rohingya hinzu. 

Die Situation in Birma, klagt der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Seid al-Hussein, gleiche „einem Lehrbuchbeispiel für ethnische Säuberung.“ Um den Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat zu verwehren, hatte Birma kürzlich selbst die Grenze zu Bangladesch mit Landminen bestückt.

Wie viele der etwas über eine Million birmanischen Rohingya überhaupt noch in Rakhaing verblieben sind, ist überdies ungewiß. Eine von der Regierung in Naypyidaw verhängte Zutrittssperre hindert seit August Journalisten an der unabhängigen Beobachtung des Konflikts. 

Aufgrund der unsicheren Lage hat selbst das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen seine Arbeit im Land einstellen müssen. Dessen Part übernimmt seitdem das Rote Kreuz sowie – nach langen telefonischen Verhandlungen zwischen dem türkischen Präsidenten Recep T. Erdogan mit der birmanischen Regierungschefin, der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi – die Türkei. Gut 1.000 Tonnen an Nahrung, Kleidung und Medikamenten hat Ankara seit Ende vergangener Woche bereits über den Luftweg nach Rakhaing liefern können. Weitere 10.000 Tonnen sollen in den kommenden Wochen folgen.

Gegenüber den Rohingya zeigt sich Suu Kyi jedoch weiterhin kompromißlos. Zu den anberaumten Friedensverhandlungen von Anfang September im thailändischen Chiang Mai, zu denen sich Vertreter von acht birmanischen Rebellengruppen einfanden, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs gegen den birmanischen Staat für ihre Unabhängigkeit kämpfen, waren die Rohingya als einzige nicht geladen. 

Lediglich Kofi Annan als Sondergesandten der Vereinten Nationen gewährte Suu Kyi Zutritt in die Provinz  Rakhaing, um in der Krise zu vermitteln. Der von Annan am 24. August veröffentlichte Menschenrechtsbericht erwies sich jedoch als brisant – und zugleich desaströs für die Regierung Suu Kyis, welche sich infolge des Berichts sogar Forderungen ausgesetzt sah, ihren 1991 erlangten Friedensnobelpreis wieder abzugeben.

„Fake News“ und gefälschte Bilder über die Zustände in Rakhaing zu verbreiten, warf die Regierungschefin ausländischen Medien und muslimischen Staaten daraufhin vor, um die birmanische Regierung vor der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren. Auch einen von den Rohingya-Rebellen einseitig verkündeten Waffenstillstand lehnt sie rigoros ab. Mit Terroristen, erklärte Suu Kyi am Montag, verhandele Birma nicht – und verweist dabei auf die blutige Anschlagsserie, die den Rakhaing-Staat Ende August erschütterte und als Auslöser der letzten großen Flüchtlingswelle gilt.

Über 150 militante Anhänger der Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA), des bewaffneten Arms der Rohingya-Separatisten, hatten am 25. August in einem konzertierten Aufruhr zeitgleich etwa 30 Polizeistationen sowie zwei Kasernen im Rakhaing-Staat überfallen. Rund 100 Menschen starben bei den blutigen Gefechten in jener Nacht. Birma wirft der ARSA vor, intensive Kontakte zur weltweiten Dschihadistenszene zu pflegen, insbesondere zum Islamischen Staat, um seine Aktivitäten in der Unruheprovinz zu finanzieren. Vorwürfe, die durchaus auch von ausländischen Geheimdiensten bestätigt werden. 

Stellvertreterkrieg zwischen Indien und Pakistan

Erst Anfang dieses Monats zerschlugen indonesische Sicherheitskräfte eine IS-Zelle in Jakarta, welche geplant hatte, die hiesige birmanische Botschaft in die Luft zu sprengen. Zudem veröffentlichte der Auslandsgeheimdienst Indiens   gleich mehrere abgehörte Telefongespräche mit brisantem Inhalt: Noch am Vorabend der Anschlagsserie  habe einer der Anführer der ARSA nicht nur detaillierte Anweisungen sowie genaue Zeitpläne vom pakistanischen Geheimdienst ISI erhalten. 

Nur wenige Minuten später, verweist Indien auf seine Mitschnitte, habe ebenso ein hochrangiger Vertreter der irakischen IS-Terrorgruppe der ARSA „viel Erfolg im Dschihad gegen die birmesischen Kolonialisten sowie buddhistische und Hindu-Fanatiker“ gewünscht. Pakistan als Initiator wiederum, so die Lesart Neu-Delhis, nutze den Rohingya-Konflikt, um die indische Armee von den Tätigkeiten der islamistischen Separatisten in Kaschmir abzulenken, die vom pakistanischen  ISI Unterstützung erfahren.