© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

Sind so kleine Hände
Beim „Marsch für das Leben“ gehen in Berlin Tausende für das Schicksal Ungeborener auf die Straße
Birgit Kelle

O nein, man kann nicht behaupten, wir würden nicht über Abtreibung sprechen in Deutschland. Da war doch dieses große, mediale Entsetzen im Frühjahr, als es ein Oberarzt aus dem niedersächsischen Dannenberg wagte, in seiner gynäkologischen Abteilung die Tötung im Mutterleib zu verweigern. Natürlich mußte das geahndet werden. Solche Alleingänge gegen die Gewöhnung an das Töten sind eine Provokation. Und so mußte die Gesundheitsministerin drohen, der Klinik öffentliche Gelder zu streichen, die Frauenbeauftragte ihrer Empörung Luft machen, daß die krankenkassenärztliche Dienstleistung „Vorgeburtliche Kindstötung“ hier nicht mehr angeboten wird, obwohl das doch neuerdings ein „Frauenrecht“ sein soll. „Pro Choice“ nennt sich die weltweite Bewegung zur Legalisierung von Abtreibung. Wahlfreiheit für Frauen. Nicht nur für ein Recht auf Krippenplatz und Karriere, sondern auch ein Recht auf Tötung des eigenen Kindes. Was für eine Errungenschaft. Und deswegen ist jetzt endlich wieder tödliches Schweigen eingekehrt in der Debatte um Abtreibung in Deutschland, nachdem der Oberarzt entlassen und der Klinikchef freigestellt wurde.

Selbst schuld. Sie hätten doch wissen müssen, daß man sich nicht ungestraft einem System widersetzt, das nun bereits seit Jahrzehnten jährlich rund 100.000 Kindern das Leben raubt. Ein System, das über fünf Millionen registrierte Abtreibungen ermöglicht hat. Fünf Millionen Kinder, die nicht leben durften in einem der reichsten Länder der Erde. Fünf Millionen Mütter, denen wir lieber die Abtreibung bezahlen als ein Leben mit Kind.

Wo sind sie alle, die Schützer von Kinderrechten? Die Wahlkämpfe führen mit dem Slogan, man wolle doch „kein Kind zurücklassen“. Die Kinderrechte sollen in die Verfassung. Alle Parteien des Bundestages haben dies in ihren Programmen stehen. Was sollen das für „Kinderrechte“ sein, die im Kleingedruckten leider nur für jene gelten, die es erst mal lebend aus dem Bauch ihrer Mütter geschafft haben müssen. Es ist blanker Zynismus, wenn wir Kindern zwar das Recht auf Bildung und neuerdings gar ein Recht auf Sexualität zugestehen, nicht aber das Recht auf Leben.

Wo sind sie alle, die doch sonst nicht zögern, mit großem Herzen und viel Engagement ihre Hilfsbereitschaft für die Armen und Schwachen zu beweisen? Wo sind sie, die aufstehen und die Rechte jener verteidigen, die noch keine Stimme haben, keine Gesichter, keine Fußabdrücke an den Stränden Europas, sondern nur den Funken des Lebens, der überspringen will in unsere Herzen?

Es gibt nur noch einzelne Politiker, die sich den Schutz des ungeborenen Lebens auf die Fahnen ihres politischen Handels geschrieben haben. Denn alle wissen: Dannenberg kann überall sein. Sag die Wahrheit, und wir erledigen dich. Nicht einmal die großen Kirchen in Deutschland sind vernehmbar um das Thema bemüht. Die evangelische? Zu beschäftigt mit wirklich wichtiger Gender-Theologie. Die katholische? Ständig auf der Suche nach moralischen Win-win-Situationen. Und die Vertreter des Islams? Nur dann auf Knopfdruck empört, wenn ein Prophet beleidigt wird. Es ist schlicht kein Thema, mit dem noch jemand in den Krieg ziehen will. Und schon gar nicht in den Wahlkampf. Gerne nutzt zwar auch die CDU in ihren Wahlkampfspots Bilder von freischwimmenden Kindern im Mutterbauch verbunden mit der Frage „In welchem Deutschland willst du leben?“ – vergißt aber anzufügen: falls du leben wirst.

Die Gewöhnung an das Töten hat vergessen lassen, daß wir über eine Straftat sprechen. Daß sie mit der Fristenlösung nicht bestraft wird, hat in feministischen Kreisen bloß den Übermut entfacht, man könne daraus für Frauen ein „Recht auf Abtreibung“ konstruieren. Faktisch haben sie ja sogar recht. Seit der Ausnahmefall zur Regel wurde, gelten inzwischen diejenigen als Fundamentalisten, Antifeministen und Hetzer, die das Lebensrecht ungeborener Kinder als unantastbar betrachten, während sich diejenigen aufs tolerant-moralisch hohe Roß schwingen, die ungeborenes Leben zu Zellhaufen degradieren.

Ein verschämtes Schweigen hat sich breitgemacht, denn zu viele sind längst Teil dieses tödlichen Systems. Wie viele Ärzte, Berater, Krankenschwestern sind beteiligt? Wie viele verdienen gar ihren Lebensunterhalt damit? Fünf Millionen Abtreibungen haben mindestens genauso viele Helfershelfer produziert. Mitbetroffene, Mitwisser, Mitmacher, Mitleidende.

Und doch gibt es immer noch diejenigen, die wagen, aufzustehen. Am Samstag werden sie wieder schweigend durch Berlin gehen. Ein Marsch für das Leben, wie er in vielen anderen Ländern der Erde stattfindet. Ein Marsch, der einst mit wenigen hundert Menschen begann. Ein Strom, der völlig gegen den Trend wächst und in diesem Jahr vermutlich über 7.000 in die Hauptstadt ziehen wird. Sie werden sich traditionell wieder anschreien, bespucken und beleidigen lassen von denjenigen, die als Gegendemonstranten erwartet werden. Bevor die linksradikale Plattform „Linksunten.Indymedia“ verboten wurde, organisierte der radikale Mob jedes Jahr dort offen einsehbar den gewaltsamen Protest gegen friedliche Demonstranten, die für den Wert jedes Menschen einstehen wollen. Die Leitmedien, die sonst nicht müde werden, jeden versprengten Haufen von Greenpeace oder regenbogenfarbenen Vielfaltsaktivisten in den Hauptnachrichten zu bedenken, ignorierten traditionell eine der größten Demos, die jährlich in Berlin stattfindet: nicht „Pro Choice“, sondern „Pro Life“. Nur nicht das tödliche Schweigen brechen. Obwohl, das ZDF sandte zumindest die Kameras einer Satire-Sendung, um die öffentlich-rechtliche Grundversorgung abzudecken. Jährlich 100.000 getötete Kinder. Ja, was für ein Heidenspaß.