© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/17 / 08. September 2017

Speer und sie
Die Biographie über NS-Rüstungsminister Albert Speer gerät zur Abrechnung mit einer ganzen Generation
Stefan Scheil

Wissenschaft als Beruf“ zu betreiben ist, frei nach Max Weber gesagt, keine einfache Sache. Es besteht besonders im akademischen Universitätsmilieu ein fast unvermeidlicher Interessenkonflikt zwischen der Verpflichtung zu Objektivität und dem Druck, sich auch als Teil des Milieus immer neu zu beweisen. Wer sich dort behaupten und Karriere machen will, steht immer in Versuchung, den jeweiligen Moden zu folgen.

Magnus Brechtken hat jedoch schon Karriere gemacht. Seit 2012 ist er stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und Inhaber einer Professur an der Universität München. Nun hat er eine Art Biographie über Hitlers Architekten und Rüstungsminister Albert Speer geschrieben. Bereits im Vorwort seines über 900-Seiten-Opus läßt Brechtken wissen, kein Buch über das „Individuum“ Speer geschrieben zu haben, sondern eines über „den Typus des bürgerlichen Deutschen, der bewußt zum Nationalsozialisten wurde und nach 1945 nicht den Willen und die Einsicht hatte, sich über seine Taten eine ehrliche Rechenschaft zu geben“. Wenn Speer nach diesem Aufruf zur Ehrlichkeit über Hunderte von Seiten als berechnender Lügner, Täter, Geschäftemacher und kühler Manager präsentiert wird, dann ist immer klar, wer eigentlich gemeint ist: die bürgerliche deutsche Gesellschaft.

Brechtken arbeitet sich umfangreich am Mythos von deren kollektiver Verantwortung für die Jahre 1933 bis 1945 ab und deren Schuld an allem, was in dieser Zeit geschehen ist. Ein wissenschaftlicher Erklärungsansatz, warum der NS-Spitzenfunktionär Speer eine typische Erscheinung sein sollte, fehlt vollständig. Brechtken nimmt lediglich den großen Erfolg von Speers Erinnerungsbüchern als Beleg für dessen Vorbildcharakter, mehr nicht.

Typisch für viele derzeitige Veröffentlichungen ist der Versuch, die Deutschen der Kriegszeit nicht nur als moralische, sondern auch als fachliche Versager hinzustellen. Dem Rüstungsminister Speer spricht Brechtken etwa jedes Verdienst ab. Was in seinem Ministerium an Neustrukturierung stattgefunden habe, habe es auch andernorts gegeben. Von einem deutschen Rüstungswunder von 1942 bis 1944 könne keine Rede sein. Damit dem Leser keine Zweifel an dieser wunderlichen Behauptung kommen, verzichtet Brechtken im entsprechenden Kapitel sicherheitshalber auf jedwede Produktionszahl. Die Verfielfachung der Herstellung in fast allen Bereichen dem verantwortlichen Minister als Verdienst abzusprechen, wäre denn doch etwas unglaubwürdig ausgefallen. 

Um seine These zu stützen, wird bei Brechtken aus dem zwar fleißig aufrüstenden Deutschland des Jahres 1939 ein bereits hochgerüstetes Land. Die deutsche Aufrüstung fand jedoch im wesentlichen erst nach Kriegsbeginn statt, das hätte Brechtken in einem Standardwerk wie Ian Kershaws Hitler-Biographie nachlesen können, die er immerhin im Literaturverzeichnis stehen hat. Der deutsche Staats- und Parteichef, vom zuständigen General Georg Thomas im Sommer 1939 auf Mängel vor allem in der Tiefenrüstung hingewiesen, erklärte schlicht, man brauche sie nicht. Er wolle ja keinen Krieg führen, sondern nur „bluffen“.

Das NS-Deutschland des Magnus Brechtken schwebt als ein von allen internationalen Zusammenhängen isolierter Kosmos im Raum. Äußere Einflüsse auf das innerdeutsche Geschehen und die Berliner Entscheidungsfindung verschweigt Brechtken konsequent, was er originellerweise mit Speers Selbstdarstellungen gemein hat. 

Speer habe großen Einfluß auf die Außenpolitik gehabt

Dies Schweigen wirkt andererseits sogar vorteilhaft, denn dort, wo er mit diesem Grundsatz bricht, wird die Darstellung eher peinlich. So übergeht Brechtken die gesamte Vorgeschichte des US-amerikanischen Kriegseintritts von 1941 und behauptet, die formelle deutsche Kriegserklärung an die USA im Dezember des Jahres habe keine sachlichen, sondern nur „ideologische Gründe“ gehabt. Wohl haben die Vereinigten Staaten mindestens seit 1940 einen von heißen Zwischenfällen unterbrochenen Kalten Krieg gegen Deutschand geführt, der spätestens mit dem Schießbefehl auf deutsche Schiffe im September 1941 längst in einen offenen Konflikt übergegangen war. Das ist allgemein bekannt, wird aber auch diesmal durch die Insinuierung des Gegenteils ersetzt.

Geradezu demonstrative Ahnungslosigkeit kommt zum Vorschein, wenn Albert Speer mehr oder weniger zum Hauptverantwortlichen für die Kriegsereignisse seit Januar 1942 erklärt wird. Es wäre Deutschland zur Jahreswende 1941/42 vielleicht möglich gewesen, mit einem „Kompromißfrieden etwas von dem Erreichten zu retten“, phantasiert der Autor. Dazu hätte man aber „zumindest diplomatische Offenheit signalisieren müssen“, so Brechtken, statt den Krieg weiter zu eskalieren: „Speer tat aber genau das.“ Damit wird Speer nicht nur ein Einfluß auf die deutsche Außenpolitik zugestanden, den dieser niemals hatte. 

Brechtken schreibt so an allem vorbei, was in Jahrzehnten der Forschung von ernsthaften Historikern aller akademischen Richtungen im In- und Ausland unzweideutig ermittelt worden ist. Es war Deutschland, das als Kriegspartei vielfach „diplomatische Offenheit“ signalisierte, während seine Gegner dieser Offenheit stets die kalte Schulter zeigten. Dafür gab es Gründe. Unter anderem waren sie – zu Recht – davon überzeugt, diesen Krieg, sollte er ausgekämpft werden, mit einem vollständigen Sieg beenden zu können.

Weniger ärgerlich wäre das alles, würde Brechtken nicht seitenweise Kritik und Polemik aller Art über andere Historiker ausgießen. Das trifft unter anderem Ernst Nolte („NS-Apologet“), die Speer-Biographin Gitta Sereny („nimmt zentrale wissenschaftliche Literatur nicht wahr“) sowie den Großteil der filmischen Aufbereiter deutscher Zeitgeschichte, ob sie nun den Film „Der Untergang“ zu verantworten haben, beim Zweiten Deutschen Fernsehen sitzen oder für Auslandssender arbeiten. Und es trifft vor allem Joachim Fest. Alle haben nach Brechtkens Meinung irgend etwas nicht genug berücksichtigt und waren zu nachsichtig gegenüber Speer, was für den Autor und die ihm nahestehenden Seilschaften stets als Symptom eines gesellschaftlichen Gesamtzustands gilt.

Es wird die Zeit kommen, in der das Institut für Zeitgeschichte die offenkundigen Halbwahrheiten, Unwahrheiten und Legenden wird aufarbeiten müssen, die seine Publikationen und die seiner Mitarbeiter regelmäßig umrahmen. Ob das als Teil eines wissenschaftlichen Forschungsdiskurses möglich sein wird, scheint mit jedem Jahr fraglicher. Das modisch gewordene und auch bei Brechtken aus fast jeder Zeile durchschimmernde politisierte Engagement gegen die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft blockiert die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Sicher werden jedoch eines Tages Abhandlungen über den denkwürdigen Gang so mancher bundesdeutscher Karriere im frühen 21. Jahrhundert erscheinen.

Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. Siedler Verlag, München 2017, gebunden, 912 Seiten, Abbildungen, 40 Euro