© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/17 / 08. September 2017

Pankraz,
die Scham und der öffentliche Pranger

Für einige Aufregung sorgt nun auch hierzulande das Buch der New Yorker „Haßforscherin“ Jennifer Jacquet „Scham – Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls“, das man im Original bei Amazon bestellen kann. Es gab inzwischen ein Interview mit der Autorin in der Süddeutschen Zeitung. Andrea Köhler hat im Zu Klampen Verlag (Springe 2017, gebunden, 152 Seiten, 16 Euro) eine kleine Gegenrede riskiert, die freilich nur empirische Richtigstellungen liefert. Der eigentliche Skandal des Buches blieb bisher politologisch unerörtert.

Er besteht darin, daß Jacquet klipp und klar als Strafe für unverbesserliche „Trumpisten“ und  „Haßprediger“ die Wiedereinführung des mittelalterlichen Prangers fordert. Der Leser erinnert sich: Angeprangert wurden damals alle möglichen „kleineren Sünder“, auch religiöse „Ketzer“, die dem Schafott oder der Verbrennung gerade noch entgangen waren. Man fesselte sie an steinerne Säulen auf öffentlichen Plätzen und lieferte sie so dem „gerechten Volkszorn“ aus.

Sie wurden angepöbelt, angespuckt und mit Steinen beworfen, vor ihnen versammelten sich grölende Meuten, die etwa höhnisch Beifall spendeten, wenn sie sich, gefesselt, wie sie waren, vor aller Augen „in die Hosen machten“. Viele Delinquenten überlebten den Pranger nicht. Eines seiner letzten Opfer war der englische Schriftsteller Daniel Defoe („Robinson Crusoe“), den sie 1703 in London wegen einiger frecher Satiren angeprangert hatten, ihn aber nach kurzer Zeit wieder losließen, offenbar weil das Verfahren inzwischen für die Justiz allzu blamabel geworden war. Sogar der Pöbel bejubelte ja Defoes Entfesselung.


Heute nun plädiert die New Yorker Wissenschaftlerin Jennifer Jacquet energisch für die Wiedereinführung des Prangers als offizielle Strafmaßnahme. „Public Shaming“, also die vom Staat verfügte und exekutierte öffentliche Beschämung, müsse wieder, neben Todesstrafe, Gefängnis und Geldstrafe, in die Klaviatur der demokratischen Bestrafungsmöglichkeiten eingeführt werden. Die Richter müßten während der Verhandlung genau darauf achten, ob der Angeklagte, „für Scham empfänglich“ sei – wenn ja, dann käme eine Pranger-, will sagen: eine Beschämungsstrafe sehr zupaß, könnte viel Aufwand und Geld sparen.

Die Scham, sagt Frau Jacquet, sei ein sehr unterschätztes Gefühl. Und dabei könne man doch so viel mit ihr anfangen, gerade in unseren so sehr auf Transparenz versessenen Zeiten! Jedermann wolle heutzutage doch in den Medien möglichst makellos, also unbeschämt, erscheinen, und deshalb sei die justiziell verfügte, „medial humanisierte“ Beschämung eines Delinquenten ein sehr willkommenes Strafurteil, wirksam, human und billig zugleich; besonders im Kampf gegen Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen könne die öffentliche Beschämung wahre Wunder bewirken.

Pankraz hat seine Zweifel, Public Shaming? Jahrtausendelang galt die Scham bei allen Völkern tatsächlich  als ein ungeheuer privater und heikler Affekt. Wer beschämt wurde, verhüllte sein Angesicht, hätte sich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen. Sich in aller Öffentlichkeit schämen zu müssen, galt als schreckliche Strafe, als eine Art innere Hinrichtung. Das Innerste wurde nach außen gekehrt und den Blicken der Masse preisgegeben. So etwas ließ sich schwer ertragen.

Am Ursprung der Scham steht die Sexualität, deren konkrete Umstände bei allen Völkern als das größte Geheimnis der Individualität verstanden wurden und als solches unbedingt vor unerlaubten Besichtigungen geschützt werden mußten. Die Behauptung einiger Zivilisationstheoretiker, daß das sexuelle Sichschämen dem abendländischen Menschen von der christlichen Kirche anerzogen worden sei, ist falsch. Hans Peter Duerr hat seinerzeit in gründlichen Untersuchungen an den Tag gebracht, daß auch die vorchristlichen und außerchristlichen Kulturen sehr wohl die sexuelle Scham kannten und respektierten.


Erst die systematisch betriebene „Senkung der Schamgrenze“ in der westlichen Moderne hat diese Konstellation ins Schwanken gebracht und sie in jüngster Zeit regelrecht umgestürzt, sowohl bei der Bekleidung als auch bei den Sprach- und Benimmregeln. Ob dadurch das Sozialsystem „verbessert“ werde? Man spricht seitdem jedenfalls vielerorts von einer rapiden „sexuellen Verelendung“ in der  Gesellschaft, und der „öffentliche Diskurs“ darüber, abgebildet etwa in Fernseh-Talkshows, nähert sich mit Riesenschritten jener „allgemeinen Verblödung“, die schon Sigmund Freud für den Fall der Abschaffung von Scham vorausgesagt hat.

Wenn jetzt Jennifer Jacquet die öffentliche Beschämung als Bestrafungsform eingeführt sehen möchte, so ignoriert sie zweierlei. Erstens gibt es diese „öffentliche Beschämung“ via Internet und Medien-Allpräsenz ja längst, und zwar in gewaltigen Ausmaßen. Große Teile der Medienindustrie leben geradezu vom Handwerk der öffentlichen Beschämung,  und jeder Strafrichter weiß genau über die neuen Pranger Bescheid und darüber, welchen dubiosen Handwerks-, besser: Mundwerksburschen er mit einem Prangeruteil helfen würde, ihre Scheuern zu füllen.

Zweitens aber gibt es, wie ein einziger Blick ins tägliche Medienangebot offenbart, die Scham gar nicht mehr. Ihre Vertreibung aus der Sexualität hat ihr den Todesstoß versetzt. Man macht heute nur noch mit einem Gespenst gleichen Namens seine Geschäfte. Und die zu Beschämungen Verurteilten tun nur noch so, als ob sie sich schämten und künftig alle politischen Haßausbrüche unterlassen würden, um ihre Prangeraufseher gnädig zu stimmen. Mit Scham hat das nichts zu tun.

Vielleicht aber gibt es ganz jenseits solchen Getriebes doch einen Intimbereich, den man unbeschädigt für sich behalten will, einen Seelenbereich, der  sich gar nicht psychologisch ausdeuten läßt, sondern nur noch transzendent belauschen.  Die Scham wäre dann das letzte  Mittel, das wir einsetzen können, um verläßlich zu Haus zu bleiben.