© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Erziehung und Abrichtung
Wurzeln und Folgen der antiautoritären Bewegung, die sich vor fünfzig Jahren in institutionalisierten Projekten Bahn brach
Thorsten Hinz

Die antiautoritäre Revolte der späten 1960er Jahre war ein internationales Phänomen. In Deutschland aber ging sie ins Prinzipielle, denn hier fiel der Aufstand gegen die Väter mit der Vergangenheitsbewältigung in eins. Der Nationalsozialismus, in den die Elterngeneration verstrickt war, wurde als die Konsequenz der „deutschen Daseinsverfehlung“ (Ernst Niekisch) und des „Irrwegs einer Nation“ (Alexander Abusch) interpretiert. Sein internationaler Kontext: „die umfassenden Druckverlagerungen auf dem schrumpfenden Globus (...), die erst die furchtbaren Faltungen und Verwerfungen des deutschen Schicksals hervorpressen halfen“ (Ludwig Dehio), wurden systematisch ausgeblendet. Die Studentenbewegung fokussierte sich auf einen fehlgegangenen Volks- und Individualcharakter, für den die Frankfurter Schule den Begriff der „autoritären Persönlichkeit“ prägte.

Die Pädagogik der Post-68er stellte sich die Aufgabe, den neuen Generationen die Fähigkeit zu Kritik und Widerstand anzuerziehen. Die Anregungen entnahmen sie den Schriften von Adorno, Horkheimer, Marcuse, Erich Fromm, Wilhelm Reich, dem Ehepaar Mitscherlich. Die Aktivitäten sollten sich auf alle Bereiche erstrecken: auf die Vorschule, die Jugendarbeit, auf die Heimerziehung, auf die Schulen, die Universitäten. Anfang September 1967 wurde mit der Freien Kinderschule in Frankfurt-Eschersheim das erste Pilotprojekt gegründet, von dem in anderen Städten meist im studentischen Milieu die „Kinderladen“-Bewegung ausging.

Der moderne Mensch ohne „Furcht vor der Freiheit“ 

Wilhelm Reich verband in der „Massenpsychologie des Faschismus“ (1933) die marxistische Kritik an der kapitalistischen Entfremdung mit der Psychoanalyse. Während der klassische Marxismus die deformierende Wirkung der Verdinglichung – die Internalisierung der kapitalistischen Warenproduktion als Naturgesetz – auf das Bewußtsein beschränkte, erweiterte Reich die Deformation auf die biologische Existenz einschließlich der Triebstruktur: „Der Mensch erstarrte plasmatisch im Prozeß der Abtötung der Genitalfunktionen.“ Durch Fremdbestimmung und fatale Selbstdisziplin – Reich nannte das die „maschinell-autoritäre Lebensauffassung – zum „impotenten Monstrum“ geworden, konnte er sich nicht mehr als „ein Stück lebendig organisierter Natur“ verhalten“, sondern lebte seine vegetativen Bedürfnisse nur noch „mystisch, jenseitig, übernatürlich (aus), sei es in Form religiöser Ekstase, sei es in Form kosmischer Allerseelen-Erlebnisse, sei es in Form sadistischen ‘Blutwallens’“. Für Reich war die autoritäre Unterdrückung seiner wahren Natur „die Urquelle des maschinellen Sadismus in der Hitlerei“.

Erich Fromm postulierte, daß „die schönsten wie auch die abscheulichsten Neigungen des Menschen kein festgelegter, biologisch gegebener Bestandteil seiner Natur (sind), sondern das Resultat des gesellschaftlichen Prozesses, der den Menschen erzeugt“. Um den modernen Menschen aus seiner „Furcht vor der Freiheit“ zu erlösen, bräuchte es eine Gesellschaft, „wo der einzelne Mensch mit seinem Wachstum und seinem Glück Ziel und Zweck der Kultur ist“ und ihm das „spontane Tätigsein der gesamten integrierten Persönlichkeit“ ermögliche. Herbert Marcuse brachte das auf die Formel: „Kultur ohne Unterdrückung“, die von einer „libidinösen Moral“ bestimmt würde. 

Adorno schließlich, der im amerikanischen Exil an einer umfangreichen Studie zur „Autoritären Persönlichkeit“ und an der Erstellung eines Fragebogens zu seiner Identifizierung mitgearbeitet hatte, lieferte mit dem Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ (1966) den politisch-moralischen Imperativ: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen.“ 

Sein Verhältnis zu den politisierten Studenten war indessen ambivalent. In ihren „manisch erstarrten Augen“ sah er einen Fanatismus aufglimmen, der dem der Nationalsozialisten nicht unähnlich war. Schon in der „Dialektik der Aufklärung“ hatte er geschrieben: „Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen an Stelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es als die Norm sich mächtig fühlt.“

Den bürgerlich-konservativen Kräften hätte das den Ansatzpunkt für eine wirksame Gegenwehr bieten können. Die Erziehungs- und Bildungskompetenz war zu der Zeit noch die Domäne eines Netzwerks, das sich aus den Schichten der Vorkriegseliten rekrutierte. Seine Mitglieder waren gesellschaftlich, privat, zum Teil sogar verwandtschaftlich miteinander verbunden. Der Soziologe Ralf Dahrendorf sprach deshalb von einer „protestantischen Mafia“. Zu ihr gehörten unter anderem die Zeit-Journalistin Marion Gräfin Dönhoff, der Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker, der Diplomatensohn und Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig, der Philosoph und Pädagoge Georg Picht – der 1964 den Alarmruf „Bildungskatastrophe“ in Umlauf brachte – und als zentrale Figur Hellmut Becker, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Becker saß in einer Unzahl wichtiger Gremien und Kommissionen, so daß Carl Friedrich von Weizsäcker ihm 1973 bescheinigte, „eine Art inoffizielles Kultusministerium aufgezogen“ zu haben. Sein Vater Carl Heinrich Becker, ein bekannter Orientalistik-Professor, hatte von 1925 bis 1930 tatsächlich als Kultusminister in Preußen amtiert. 

Anknüpfungspunkte an die Reformpädagogik vor 1945

Diesen exklusiven Kreis einte die Faszination für Stefan George. Zugleich favorisierte er eine Reformpädagogik, die an Erfahrungen aus der Weimarer Republik anknüpfte und gleichfalls einen antiautoritären Geist verbreitete. Das war kein Widerspruch, denn die Pläne dieser Bildungsreformer waren „ein durch und durch elitäres Projekt, ersonnen von sendungsbewußten Angehörigen der Eliten, die hier für die Massen und massengerecht zu handeln meinten“(Ulrich Raulff). Sie legten Wert darauf, nicht mehr als „Eliten im hierarchischen Sinne“ in Erscheinung zu treten, sondern als „aktive Minderheiten“ (Hellmut Becker) in einer jungen Demokratie.

Ihr antiautoritärer Ansatz aber sollte sich vom Furor der 68er unterscheiden. Hartmut von Hentig äußerte 1968: „Wir müssen froh sein über jedes bißchen Hemmung, das sich über unsere Natur legt, dankbar für die Umstände, die den wahren repressiven Charakter nicht hervor- und in Aktion treten lassen.“ Wenn es in seinem Zirkel solch klare Einsichten gab, warum blieben sie dann ohne Wirkung?

Weil seine Positionen, aus politischer Perspektive betrachtet, ab- und fremdgeleitet waren. Wenn Becker zur Frankfurter Schule, die aus den USA remigriert war, intime Beziehungen unterhielt, setzte er nicht nur eine väterliche Tradition fort – sein Vater hatte als Minister das Frankfurter Institut für Sozialforschung protegiert –, es lag darin auch eine Anerkenntnis der ideologischen und politischen Konstellationen. Becker war ein Freund von Shepard Stone, einem engen Berater von John McCloy, dem ersten amerikanischen Hochkommissar in Deutschland. Man kam sich entgegen: Die Amerikaner drängten darauf, das deutsche Schulwesen im Sinne der „Re-Education“ zu „demokratisieren“ und das dreigliedrige Schulsystem zurückzudrängen. Unter Mithilfe Beckers wurde bereits 1953 die Einführung von Modell-Einheitsschulen in das staatliche Bildungssystem beschlossen. Die Amerikaner hielten sich im Gegenzug an ihre Zusagen: Die elitären Landerziehungsheime wie „Birklehof“ und „Odenwaldschule“, die pädagogischen Pflanzstätten des Becker-Netzwerkes, wurden finanziell großzügig unterstützt. 

Die deutsche Reformpädagogik war nach dem Ersten Weltkrieg angetreten, das geschlagene Land aus dem Geist der Bildung zu erneuern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte sie daran anknüpfen. Doch die Voraussetzungen hatten sich verändert. Becker stellte 1961 in dem Aufsatz „Außenpolitik und Kulturpolitik“ die unsinnige Behauptung auf, die Bildungspolitik habe „das Primat der Außenpolitik“ abgelöst, und versuchte, aus der praktischen Ohnmacht eine geistige Tugend zu machen: „Die Vermeidung der Weltkatastrophe bleibt eine große Aufgabe. Die Entwicklung der menschlichen und geistigen Kräfte hierfür ist Aufgabe der Bildung, für die die Bildungspolitik die Chance zu schaffen hat.“ 

Der „pädagische Eros“ und pädophile Mißbrauchsfälle

Doch der beschworene Geist, der die internationale Politik missionieren sollte, erwies sich schon gegen den inneren Gegner als wirkungslos. Der Vergangenheitsbewältigung, dieser schärfsten Waffe der 68er, hatte er nichts entgegenzusetzen. Er hätte sich dazu – im Sinne Ludwig Dehios – von der Alleinschuld-These und damit von den äußeren Vormächten emanzipieren müssen. Damit waren seine Protagonisten überfordert.

Letztlich war dieses Bildungsbürgertum von demselben politischen Virus befallen wie die 68er und war sich sogar in der sexuellen Libertinage mit ihnen einig. Der Odenwald-Schüler Daniel Cohn-Bendit äußerte rückblickend in einem Interview: „Es war ja in dieser antiautoritären Phase gang und gäbe, daß in den Wohnungen alle nackt herumliefen, eine von außen auferlegte Schamlosigkeit, die, so sehe ich es heute, dem Schamgefühl der Kinder überhaupt nicht gerecht wurde.“ Seine früheren Berichte über sexuelle Kontakte mit Kindern bezeichnete er bei der Gelegenheit als „merkwürdige Kolportage aus Fiktion und Erlebtem“.

Was linke Pädagogen die „sexuelle Befreiung“ nannten, war den Reformpädagogen der „pädagogische Eros“. Der langjährige Leiter der Odenwald-schule, Gerold Becker (nicht verwandt mit Hellmut Becker, aber viele Jahre von ihm gefördert und liiert mit Hartmut von Hentig), genoß in Medien wie in der Fachwelt den Ruf als begnadeter Pädagoge (JF 33/17). Er stand – so war 2013 in einer Ausstellung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zu lesen – „für einen vertrauensvollen, antiautoritären Umgang mit den Schülern, er war der Lehrer gewordene Inbegriff der späten sechziger und siebziger Jahre“. Vor allem war Becker ein Pädophiler, unter dessen Ägide der Kindesmißbrauch an der Odenwaldschule gängig war. 

2015 wurde die traditionsreiche Schule geschlossen. Es war letztlich die Besiegelung eines antiautoritären Desasters, das die Reformer beider Lager miteinander teilen. Von der Generierung eines klügeren und widerständigeren Menschentyps kann ohnehin keine Rede sein.