© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Zu den vergeblichen Versuchen, den polnisch-deutschen Krieg 1939 zu verhindern
Eine Brücke bauen
Stefan Scheil

Graf Ciano wollte in Warschau nichts unversucht lassen: „Unter der Erde gibt es keine Souveränität“, erklärte Italiens Außenminister den Gastgebern bei seinem Polenaufenthalt im Frühjahr 1939. „Laßt die Deutschen einen Tunnel graben. Mit einem Tunnel könnt ihr euch doch einverstanden erklären?“, schlug er vor. Seine polnischen Gesprächspartner sahen das anders. Sie winkten ab.

Es ging in diesem Gespräch um einen damals immerhin schon zwanzig Jahre alten polnisch-deutschen Streit und dessen mögliche Lösung. Man stritt um den deutsch-deutschen Waren- und Personenverkehr zwischen Ostpreußen und Pommern durch das neuerdings zu Polen geschlagene Westpreußen. Seit 1919 führte die Straße von Stettin nach Königsberg durch das Ausland, erhebliche Zollzahlungen und zuweilen auch Schikanen durch die polnische Seite gehörten in der aufgeheizten Atmosphäre nach dem Ersten Weltkrieg zum Alltag. Deutsche Gegenmaßnahmen zur Hilfe für Ostpreußen, die in mancher Hinsicht die späteren Privilegien für das nach 1945 in Insellage isolierte West-Berlin vorwegnahmen, konnten das nur teilweise ausgleichen.

Graf Cianos Polenreise gehörte zu den späten und vergeblichen Versuchen, diese Situation noch ohne Gewaltausbruch zu regeln, von der so mancher Zeitgenosse in ganz Europa sagte, wegen ihr würde früher oder später der nächste größere europäische Krieg ausbrechen. Ciano kehrte schließlich verärgert nach Italien zurück, denn in Polen könne man mit niemandem verhandeln. Alle seien dem Erbe von Józef Pilsudski verpflichtet und auf den aus dieser Perspektive früher oder später unvermeidlichen Konflikt mit Deutschland fixiert.

Daran war manch Wahres. In keinem Fall, so hatte letztlich im Januar 1939 die Entscheidung der Warschauer Regierenden gelautet, dürfe man in diesen „untergeordneten Angelegenheiten“ wie der Verbindung nach Ostpreußen nachgeben, wolle man nicht zum deutschen „Vasallen“ werden. Eine Konferenz der Staatsführung hatte zuvor die Aussichten besprochen, die angesichts der hartnäckigen deutschen Versuche bestanden, Polen zu einem Verbündeten zu machen. Das Land sollte nach Berliner Vorstellungen einen Rang wie Italien erhalten. Als Kompensation für polnische Zugeständnisse in Verkehrs- und Danzigfragen wurde dafür die Anerkennung der bestehenden Grenzen geboten, analog hatten sich schließlich mit Italien die Probleme der Brenner-Grenze und des Status von Österreich lösen lassen.

Nun konnte das Zwischenkriegspolen zwar als autoritär-faschistischer Staat gelten, doch sah man sich in Warschau deshalb noch lange nicht als kommender Partner des deutschen NS-Staats. Solange die Deutschen mit ihrer revisionistischen Außenpolitik Erfolg hatten, wollte die polnische Regierung in ihrem Windschatten agieren. Sollten sich die Westmächte aber zu einem antideutschen Kurs entschließen, mußte man ihnen folgen. Oder um es kurz zu sagen: „Im Frieden mit, im Krieg gegen Hitler“, diese Parole hatte das polnische Kabinett im Sommer 1938 als Leitlinie akzeptiert.

Eine „Sonderautobahn“ ohne Verbindung zum polnischen Straßennetz hätte eine Straße von Deutschland nach Deutschland geschaffen und wäre der Ende der zwanziger Jahre schon einmal angedachten Brückenlösung nahegekommen. 

Diese Auffassung klang stark, aber sie entsprach nicht den nüchternen Analysen aus dem eigenen Außenministerium. Zugeständnisse in Fragen Danzigs und der Autostraße waren für Polen durchaus möglich. Tatsächlich arbeiteten die polnischen Ministerien sogar bereits an möglichen Detaillösungen. Die Frage einer besonderen Autostraße zwischen den deutschen Gebieten in Pommern und Ostpreußen wurde sowieso seit Jahren diskutiert. Von polnischer Seite dachte man Ende der 1920er Jahre an eine Brückenlösung.

Zu den ersten ähnlicher Vorschläge von seiten Deutschlands gehörte eine Anregung, die der deutsche Botschafter Hans-Adolf von Moltke im Sommer 1934 übermittelte. Sie galt als mögliches Mittel zur Entschärfung von deutsch-polnischen Konflikten. Keine Seite mußte ihr politisches Gesicht verlieren, und kein Gebiet würde so seinen Besitzer wechseln, wenn Ostpreußen verkehrstechnisch wieder an den Rest Deutschlands angebunden worden wäre.

Natürlich waren solche Entscheidungen immer von dem allgemeinen Zustand der gegenseitigen Beziehungen abhängig. Und da schien es Grund zum Optimismus zu geben. Mitte der dreißiger Jahre sah es von außen so aus, als würden Polen und Deutschland ähnliche Interessen verfolgen. Dieser Eindruck war auch nicht ganz falsch, denn er wurde von der polnischen Außenpolitik gezielt gefördert. Von polnischer Seite aus existierte allerdings ein nicht unberechtigtes Mißtrauen gegenüber den letzten deutschen Zielen in einer solchen Verbindung. Die traditionelle Westbindung an Großbritannien und vor allem Frankreich genoß zu jeder Zeit ein weitaus höheres Ansehen als jede Möglichkeit polnisch-deutscher Zusammenarbeit.

Immerhin war der Schein erweckt worden, und daher mußte er auch mit Leben erfüllt werden, als von deutscher Seite im Oktober 1938 tatsächlich Vorschläge für einen dauerhaften Abgleich der Ziele kamen, darunter eben auch die Frage der Straße von Stettin nach Königsberg. So erarbeitete man denn im polnischen Außenministerium seit Herbst 1938 verschiedene Varianten. In diesen Fragen steckte der Teufel wie immer im Detail. Eine volle „Exterritorialität“ der Autobahn konnte bedeuten, daß dort deutsche Gesetze galten, etwa für den Fall von Unfällen. Sie konnte auch bedeuten, daß polnische Gesetzesbrecher sich über die Autobahn der Verfolgung entziehen könnten. Möglich war der Wegfall von Einnahmen aus indirekten Steuern für Benzin. Ein Problem stellte auch der Bau und die Wartung der Strecke dar, je nachdem, wer das Vorhaben plante oder ausführte.

Dazu kamen weitere Fragen. Was würde im Kriegsfall sein? Sollte es Regelungen für den Transport deutschen Militärs über die Strecke geben? All das und anderes mehr wurde im polnischen Außenministerium bedacht. Eine mögliche Lösung sah das Ministerium in der Gründung einer Aktiengesellschaft für Bau und Betrieb der Strecke, an der auch polnisches Kapital beteiligt sein würde. Statt einer Exterritorialität im vollen rechtlichen Sinn hielten die polnischen Fachleute schließlich eine „Sonderautobahn“ für die akzeptabelste Lösung. Das meinte eine Strecke ohne befahrbare Verbindung zum polnischen Straßennetz, aber auch ohne rechtlich exklusiven Charakter. Formal ungehindert, unkontrolliert und gebührenfrei würde der Verkehr demnach juristisch gesehen weiterhin über polnisches Gebiet fließen. Dabei sollte jede Paß-, Zoll- und Devisenkontrolle abgeschafft werden, so lautete der Vorschlag des mit der Angelegenheit beauftragten Leiters der Westabteilung im polnischen Außenministerium, Józef Potocki.

Diese Lösung hätte eine Straße von Deutschland nach Deutschland geschaffen und wäre einer Ende der 1920er Jahre schon einmal angedachten Brückenlösung nahegekommen. Allerdings würden die finanziellen Einbußen für Polen bei einer solchen Regelung nicht unerheblich ausfallen. Die Zolleinnahmen aus dem deutschen Waren- und Dienstleistungsverkehr an dieser Stelle betrugen phasenweise 15 Prozent des polnischen Staatshaushalts.

Alle jene Pläne zur besseren Verkehrsanbindung Ostpreußens an Pommern, die Ende des Jahres 1938 ihren Höhepunkt erreichten, hatten eines gemeinsam: Sie wurden nie Gegenstand von Äußerungen der offiziellen polnischen Außenpolitik.

Aber alle diese Pläne, die in den Monaten November und Dezember des Jahres 1938 ihren Höhepunkt erreichten, hatten eines gemeinsam: Sie wurden nie Gegenstand von Äußerungen der offiziellen polnischen Außenpolitik. Zwar gibt es eine Reihe von überlieferten Vorlagen an den Außenminister. Auch Tagungsordnungspläne für innerministerielle Gespräche haben sich erhalten. Aber wie sich die Spitze des Außenministeriums im einzelnen geäußert hat, ist nicht bekannt. Sicher ist aber, daß weder der Minister selbst noch einer der von ihm instruierten polnischen Gesprächspartner den deutschen Stellen einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet hat.

Ein polnisches Gegenangebot für eine Gesamtlösung wurde nicht vorgelegt, obwohl an ihm gearbeitet wurde und obwohl es ein geeignetes Mittel hätte sein können, um den deutschen „Druck“ abzulenken. Das deutsche Angebot vom 24. Oktober 1938 enthielt faktisch bereits eine Anerkennung des polnischen Territoriums. Eigentlich war es ein naheliegender Gedanke, dies dadurch abzusichern, daß auf dieser Basis über praktische Lösungen für den Rest der angesprochenen Probleme verhandelt wurde.

In seinen Erinnerungen schrieb Polens Außenminister Józef Beck später, er habe sich zu diesem Zeitpunkt an einer 1935 gegenüber ihm persönlich getätigten Äußerung Hitlers orientiert: „Die deutsche Nation braucht zu ihrer Weiterentwicklung gute Beziehungen zu Polen in Europa und gute Beziehungen zu England in der Welt. Alles andere ist sekundär.“ Faktisch ging Beck allerdings spätestens seit 1938 daran, gemeinsam mit England eine Bündniskonstellation gegen Deutschland zu bilden. Zwischen Januar und März 1939 gelang dies, bis schließlich die gegenseitige englisch-polnische Garantie am 31. März verkündet wurde, umrahmt von polnischen Truppenmobilisierungen an der deutschen Grenze. Polen war seit Frühjahr 1939 zum Krieg bereit und hatte zwischenzeitlich seine Souveränität gezeigt, auch dies ein Plan des langjährigen starken Mannes, Józef Pilsudski. Man müsse wenigstens phasenweise eine eigenständige polnische Außenpolitik gegenüber Deutschland zustande bringen, hatte dessen Vorgabe gelautet, nicht nur der immer treue Vasall des Westens sein.

In Italien dachte man gar nicht so unähnlich. Zwar fungierte das Land auch formal als deutscher Bündnispartner, doch Graf Ciano stellte rechtzeitig vor Kriegsbeginn in Rom die berühmt-berüchtigte Forderungsliste von deutschen Rohstofflieferungen an Italien auf, ohne die Italien nicht am Krieg teilnehmen würde. Es war eine Liste, „die einen Bullen töten würde, wenn ein Bulle lesen könnte,“ so Ciano.

In Paris und London setzte sich die Ansicht durch, es hätte sich der polnische Vasall zwischenzeitlich doch zuviel herausgenommen. Trotz wortreicher und schriftlicher Beistandsversprechungen halfen Frankreich und Großbritannien dem neuen polnischen Verbündeten deshalb nicht. Den polnisch-deutschen Krieg mußten beide Parteien einstweilen unter sich ausmachen. Das Bauen von Brücken war gescheitert, das von Tunneln auch.






Dr. Stefan Scheil, Jahrgang 1963, veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Vorgeschichte und Eskalation des Zweiten Weltkriegs sowie zum politischen Antisemitismus in Deutschland. Er studierte Geschichte und Philosophie in Mannheim und Karlsruhe. 2014 wurde er mit dem Historikerpreis der Schweinfurter Kronauer-Stiftung ausgezeichnet. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über polnische Geschichtspolitik („Polens Kampf“,     JF 36/16).

Stefan Scheil: Polen 1939. Kriegskalkül, Vorbereitung, Vollzug. Verlag Antaios, Schnellroda 2014, gebunden, 96 Seiten, 8,50 Euro 

Foto: „Affaire de Dantzig“, Foto-Karikatur zur Krise um Danzig und den Polnischen Korridor mit den europäischen Regierungschefs bzw. Außenministern sowie US-Präsident Roosevelt am Spieltisch, 1939: Benito Mussolini, Józef Beck, Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Georges Bonnet, Franklin D. Roosevelt, Neville Chamberlain, Graf Ciano, Édouard Daladier, Edward Rydz-Smigly (v. l. n. r.). Ein zwanzig Jahre alter Streit und eine mögliche Lösung, bei der keine Seite ihr Gesicht verlieren mußte. Aber es kam anders.