© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Der Feind lauert überall
Essay: Antifaschisten mißtrauen der Freiheit, spielen sich als Gedankenpolizisten auf und denunzieren die Meinungen Andersdenkender
Eberhard Straub

Die vollständige Politisierung von allem und jedem gehörte für den  spanischen Soziologen, Historiker und Philosophen José Ortega y Gasset zu dem von ihm 1927 analysierten Aufstand der Massen. Unberührt von religiösen Glaubenswahrheiten oder philosophischen Überzeugungen haben Politiker ein leichtes Spiel, sich der nicht minder ahnungslosen Massen zu bemächtigen. Immer aufgeregt, unselbständig und nie zur geistigen Ruhe kommend, beanspruchen sie als Sinnstifter in der Orientierungskrise zu wirken.

Auf diese Weise werden die schwankenden, besorgten, unsicheren, für den Irrtum anfälligen Einzelnen gesellschaftlich erfaßt, homogenisiert und für die Gesellschaft unschädlich gemacht. Nicht mehr die Götter oder Gott erweisen sich als erlösende Schicksalsmacht, sondern die Politik ist jetzt zum Schicksal geworden, wie Napoleon schon behauptet hatte. Seinen Lebensinhalt darin zu finden, entweder rechts oder links zu sein, das hielten Humanisten oder Liberale für die beiden Möglichkeiten, im 20. Jahrhundert dem öffentlichen Irrsinn zu erliegen. Das hieß nämlich, sich jenseits der Wirklichkeit in einem ideologischen Reich der Lügen und Wünschbarkeiten einzurichten, welche die Tatsachen verdrängen und die ohnehin  unübersichtlichen Verhältnisse  endgültig verwirren. 

Rechts und links – der Kommunismus, die verschiedenen Spielarten eines autoritären Sozialismus, der Faschismus und der deutsche oder französische Nationalsozialismus – wollten den ganzen Menschen erfassen und formen. Sie anerkannten kein inneres Reich der freien Selbstbestimmung, in dem sittliche Mächte, Religion, Kunst und Wissenschaften herrschten.

Nach 1945 sollte ein neuer Mensch geschaffen werden

Bis um Ersten Weltkrieg war es selbstverständlich, daß Parteien und der Staat, also die Politik, dort nichts zu suchen hatten. Sie überschritten ihre Grenzen, sobald sie sich anmaßten, in die Sphären des freien Geistes und der freien Selbstbestimmung einzugreifen, um Gedanken und Gesinnungen möglichst ihren Zwecken anzupassen und unterzuordnen. Deswegen scheiterten die totalitären Bewegungen von rechts und links. Sie sind längst Geschichte. Aber die totalitäre Versuchung, nichts mehr der Privatheit und dem eigenen Ermessen zu überlassen, blieb weiterhin gegenwärtig.  Denn nach 1945 ging es in der Bundesrepublik und der DDR darum, einen neuen Menschen zu schaffen, der als wehrhafter Demokrat nie wieder faschistischen oder nationalsozialistischen Verführungskünsten erliegt. 

Der dauernde Kampf gegen den Faschismus legitimierte das neue und geistig rundum zu erneuernde Deutschland, das sich seitdem ununterbrochen zum allerneuesten antifaschistischen Bollwerk überholt und solchen Europäern als humanistischer Leuchtturm dienen will, die zuweilen ihr Wächteramt vernachlässigen, Europa als „nazifreie“ Zone zu erhalten. Demokratie und Antifaschismus werden miteinander identifiziert.

Es kann nie genug Demokratie geben. Sie ist dauernd in Bewegung, stets auf dem Weg, dynamisiert von dem Willen zur totalen Demokratisierung und schrankenlosen Politisierung, die allerdings nie an ihr Ende gelangt. Denn immer wieder treten störrische Wirrköpfe auf, die sich mit ihrem Eigensinn als Gefahr für die Gemeinschaft aufrechter und anständiger Demokraten erweisen, die als gutartige Menschen ein Menschenrecht darauf haben, vor ordnungswidrigen und furchteinflößenden Elementen geschützt zu werden. Es wäre verantwortungslos, Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes mit ihren Ängsten allein zu lassen. Antifaschistische Demokraten fordern die totale Freiheit für sich, weil sie den anderen und ihrer Freiheit mißtrauen. Sie halten es für ihre Pflicht, als Gedankenpolizisten Gesinnungen zu überprüfen und das Innere jedes Einzelnen transparent zu machen.

Antifaschisten haben Angst vor dem Leben

Wehret den Anfängen! Dazu wird jeder bekennende Demokrat aufgerufen, hellwach auf rechte, rechtsextreme, rechtsradikale, faschistische, nazistische oder neonazistische Stimmungen zu achten, die ihm an Kollegen oder gar bei Freunden auffallen. Die darf er nicht überhören oder übersehen, will er nicht mitschuldig werden. Er muß sie melden, veröffentlichen. Der Denunziant ist nicht mehr verächtlich. Im Gegenteil, er zeichnet sich aus als Ordnungshüter und Menschenfreund wie einst in der attischen Demokratie, in der jeder jeden kannte und kontrollierte. Wer allzu sehr von den Meinungsführern und ihrer Gefolgschaft abwich, wurde aus dem öffentlichen und privaten Zusammenleben  freier Bürger ausgeschlossen, verbannt  oder – wie der weise und große Sokrates –  zum Tode verurteilt.

Demokratische Humanisten können unter dem Vorwand, dem Neonazismus energischen Widerstand zu leisten, heute eleganter vorgehen, um einen ihrer Kritiker fertigzumachen und bürgerlich zu erledigen. Dabei sind direkte Aktionen nicht immer empfehlenswert, da indirekte  – wie üble Nachrede, Verleumdung oder skandalisierende Interpretation von Zitaten – die gleichen Folgen wie im klassischen Athen haben, jeden auszusondern, der sich wegen mentalen Fehlverhaltens vom Konsens der Gutgesinnten fernhält.

Die erste französische Republik von 1792 verbündete sich gleich mit dem Terror, weil eine Republik, die keinem ihrer inneren und äußeren Feinde Schrecken einjagt, nicht zu überleben vermag, wie radikale, linke Revolutionäre verkündeten. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, anfänglich ein Sympathisant der Revolution, war bald von ihr enttäuscht, weil die Freiheit mit Gesinnungen, damals Tugend genannt, verwechselt wurden. „Die Tugend ist hier ein einfaches Prinzip und unterscheidet nur solche, die in der Gesinnung sind, und solche, die es nicht sind. Die Gesinnung aber kann nur von der Gesinnung erkannt und beurteilt werden. Es herrscht somit der Verdacht; die Tugend aber, sobald sie verdächtig ist, wird schon verurteilt“.

An Stelle von Tugend braucht man heute nur Antifaschismus einzusetzen. Wer nicht Tag für Tag als (verbal) militanter Antifaschist auffällt, gerät in Verdacht und ist damit schon bestraft. Die obligatorische Gesinnungstüchtigkeit sorgt mit dem Fanatismus der Unbestechlichen im unübersichtlichen Pluralismus für die von ihnen als notwendig erachtete Klarheit, Ordnung und Übereinstimmung der Gemüter.  

Der Nationalsozialismus ist besiegt und als Experiment gescheitert. Er wird nie wiederkehren, weil sich nichts in der Geschichte mit ihren Unberechenbarkeiten und bei dem raschen Wandel der Lebensverhältnisse und Mentalitäten wiederholt. Die Geschichte ist der Inbegriff des Lebens und des Lebendigen. Dagegen stemmen sich die Antifaschisten, vollkommen auf den Tod, auf die Vergangenheit fixiert und der Lebenswirklichkeit abgewandt. Nichts jagt ihnen so viel Schrecken ein, wie die Mannigfaltigkeit der Ideen und unterschiedliche Lebensformen. Sie haben Angst vor dem Leben und den unvermeidlichen Überraschungen während der Metamorphosen der Gesellschaft. Sie leben in einer Welt der Fiktionen, an die sich klammern, wie Schiffbrüchige an vorbeischwimmende Planken. Der Antifaschismus hilft ihnen dabei, zu überleben.

Opposition gilt als unanständig

Wer nichts ist und wer nichts kann, der ging, wie man früher spottete, zu Post und Eisenbahn, heute hingegen betätigt er sich als Antifaschist, wozu ihm üppig ausgestattete Stiftungen und Verbände Gelegenheiten bieten. Der Feind lauert überall und muß rücksichtslos ausgeschaltet werden. Im liberalen Rechtsstaat gab es erbitterte Streitigkeiten. Doch wer seinen politischen Feind diskriminierte und zum totalen Feind erklärte, machte sich gesellschaftlich unmöglich, weil er den inneren Frieden gefährdete. 

Es war eine der großen liberalen Errungenschaften, jeden darauf zu verpflichten, seine Feinde nicht unbedingt zu lieben, aber mit ihnen wenigstens  einen vernünftigen Umgang zu wahren. Die antifaschistischen Bewußtseinskontrolleure verweigern sich dieser Übereinkunft und damit einem besonders schützenswerten, liberalen Erbe und dem Geist des Rechtsstaates. Alles, was ihnen mißfällt, kann als „rechts“, „rechtsextrem“ oder „faschistisch“ diskreditiert werden, bloße Worte, die mit beliebigen Inhalten von sogenannten Linken gefüllt werden. Sie haben als besserverdienende  Möchtegern-Bohémiens gar nichts mit dem klassischen Marxismus und seinen ehemaligen Variationen zu tun. Links bedeutet heute einen bestimmten Lebensstil und Geschmack, durchaus mit schicker Gewalt gegen netzhautkränkende Erscheinungen verbunden.

Bei den schnell wechselnden Moden, die auch die Politik ergriffen haben, suggeriert Antifaschismus Beständigkeit und eine überlegene Lebensart. Deshalb ist er „unverzichtbar“. Er legitimiert die Konsensdemokratie im hochanständigen Deutschland. Opposition gilt als unanständig. Wer sich hier in der besten aller Welten nicht wohl fühlt, schließt sich aus der Gemeinsamkeit aller aufrechten Demokraten und Antifaschisten aus und muß bekämpft werden.