© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Pankraz,
Jünger/Lenz und die bestraften Großväter

Das deutsche Volk“, sagte ein an sich nicht unsympathischer, wenn auch extrem leidenschaftlicher Vergangenheitsbewältiger zu Pankraz, „das deutsche Volk mag seine dunkle Vergangenheit“ (er meinte die Zeit zwischen 1933 und 1945) „ehrlich aufgearbeitet und seine Schuld also verbüßt haben, aber der deutschen Generation von damals, die das alles angerichtet hat, kann und werde ich nie, nie verzeihen. Das kannst du nicht von einem der Opfer von damals verlangen.“

Pankraz schwieg bekümmert. Sein Gesprächspartner stand ja mit seiner Gnadenlosigkeit  nicht allein, er formulierte nur die offiziöse Medienstimmung des Tages. Je mehr Zeit vergeht, um so tiefer versinkt das Schicksal von Völkern in Dimensionen, wo nicht mehr moralische Schuldsprüche das Urteil der Nachfahren bestimmen, sondern umfängliche weltgeschichtliche Ereignisse, die sich nur noch „sachlich“ fixieren lassen. Um so grimmiger dann freilich der Moralspruch gegen Einzeltäter, soweit man ihrer – wenigstens in der Erinnerung – noch habhaft werden kann. 

Straffrei gebliebene Einzeltäter aus der Zeit zwischen ’33 und ’45 gibt es allerdings auf deutscher Seite faktisch nicht mehr – also macht man die ganze damals hierzulande lebende Generation, die deutsche (und österreichische) Kriegs- und Vorkriegsgeneration zum straffälligen Einzeltäter. Es geht gar nicht mehr um Schuld, sondern um Angehörigkeit. Die bloße Eintragung in irgendwelchen historischen Pässen oder Organisationskladden, das bloße In-der-Nähe-gewesen-Sein genügt, um als Verbrecher markiert und als solcher in den Schulunterricht eingeführt zu werden.


Wir, die Welt der Angeklagten“ hieß ein Buchtitel der Nachkriegszeit, der sich – vielfach bezeugt – selber nicht ganz ernst nahm,  weil die These von der sogenannten Kollektivschuld damals von allen Einsichtigen zurückgewiesen wurde. Zu viele wußten noch, wie es wirklich zugegangen war und wie schwer es oft fiel, reinlich zwischen Schuld oder Nichtschuld zu unterscheiden. Heute, ein dreiviertel Jahrhundert danach, scheint die Kriegs- und Vorkriegsgeneration nun tatsächlich in toto auf die Anklagebank gerückt.

Mit dem Rückgang konkreten Einzelwissens stieg die Zahl der Kollektivbezichtigungen, mit der Ausdünnung der Anklagesubstanz steigerte sich die spontane Wut (oder auch das schlaue Kalkül) des Anklagewillens. Das hängt natürlich auch damit zusammen, daß sich die angeklagte Generation von sich aus nicht mehr wirklich wehren kann. Setzt man ihre Spannweite realistischerweise etwa zwischen 1895 (Geburtsjahr von Ernst Jünger, Hauptmann i.R.) und 1926 (Geburtsjahr von Siegfried Lenz, Flakhelfergeneration) an, dann ergibt sich, daß fast alle ihre Angehörigen bereits verstorben sind.

Gegen solche Jahrgänge läßt sich leicht in Selbstgerechtigkeit machen. Wem es indessen nicht um anmaßungsvolle Selbstgerechtigkeit, sondern um historische Gerechtigkeit zu tun ist, den ergreift wohl, wenn er die Lebensstrecke der in Frage stehenden Generation abmustert, eine tiefe Erschütterung und eine mit Mitleid und Grauen untermischte Bewunderung für diese Menschen, die so viel durchmachen mußten, die existentiell so ungeheuer gefordert wurden – gefordert wie noch keine andere Generation in der deutschen Geschichte.

Man sollte sich klarmachen, daß sich die allermeisten Angehörigen einer Generation nicht als Gestalter, sondern als Opfer der geschichtlichen Prozesse sehen, und zwar vollkommen zu Recht. Es gibt jeweils nur wenige echte Täter und unter denen allenfalls eine Handvoll  dämonischer Asozialer, die sich über alle Empfindungen und Normen hinwegsetzen und bewußt das Verbrechen wählen. Die anderen sehen sich „in der großen Drift“ (Rudolf Krämer-Badoni), die Ereignisse „kommen über sie“, und sie haben alle Hände voll damit zu tun, um zu überleben, ihre Familie satt zu machen und dabei anständig zu bleiben.


Schon der vielfache Wechsel der Regierungsformen in Deutschland, von der Monarchie über die Weimarer Republik und über die Diktatur zu den (höchst unterschiedlichen) Nachkriegsordnungen, war sehr viel mehr, als eine einzige Generation gerechtermaßen aushalten kann. Nicht einmal den Zeitgenossen der Französischen Revolution und Napoleons (1789–1815) sind derartige Umbrüche zugemutet worden, abgesehen davon, daß ein Regimewechsel damals bei weitem nicht so gründlich und so schnell auf sämtliche Lebensverhältnisse durchschlug wie heute.

Der Deutsche der Kriegs- und Vorkriegsgeneration mußte sich innerhalb kürzester Zeit gleich mehrere Male in seiner staats- und gesellschaftspolitischen Loyalität entscheiden, und jede seiner Entscheidungen hatte Folgen für Leib, Leben und Fortkommen. Zwischen den Kriegen sah er sich nicht nur als Besiegten und zu horrenden Zahlungen gezwungen, sondern durch den Versailler Vertrag zum regelrechten Paria der Welt degradiert, in seiner industriellen Tüchtigkeit und Erfinderkraft rigoros behindert, später durch Inflation und Wirtschaftskrise ins nackte, verzweifelte Elend getrieben.

Nach dem zweiten Krieg, zweifellos dem härtesten Krieg der Weltgeschichte, wurden viele Hunderttausende seinesgleichen in der Gefangenschaft zu Tode gefoltert, als Arbeitssklaven verbraucht, auf der Flucht erschlagen, „umerzogen“, in Lager gebracht, in riesigen Elendszügen über die Grenzen des vielfach zerteilten Landes hin und her geschoben und zu Hause mit  grauenhaft zerstörten Städten konfrontiert.

Viele aus dieser Generation gehörten dann zu den Schöpfern des „Wirtschaftswunders“, ließen als Industriemanager, Wissenschaftler oder handwerkliche Kleinunternehmer jenen viel bewunderten „Wohlfahrtsstaat“ entstehen, in dem nun so mancher ihrer Enkel und Urenkel zum Ankläger der „Großvätergeneration“ geworden ist. 

Ist das nicht Strafe genug? Sie haben Drachen gesät und Flöhe geerntet, von denen noch nicht einmal klar ist, ob sie überhaupt je für den Fortbestand der Generationenfolge werden sorgen können. Erbarmen für die Großväter!