© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/17 / 25. August 2017

„Maulkorb und Leine sind Pflicht“
Riesenhafte Herdenschutzhunde in ungeübter Hand sind eine unterschätzte Gefahr
Martina Meckelein

Wer heute en vogue sein will und meint, sein Ego nicht nur im Kutschieren eines Premiumfahrzeuges aufmotzen zu müssen, sondern durch einen ganz besonderen Beifahrer – der protzt mit einem Kangal, einem Kaukasischen Owtscharka oder Komondor, also riesenhaften Herdenschutzhunden (HSH). Der Modespleen bedeutet nicht nur für die hochspezialisierten Arbeitstiere, sondern auch für die Mitmenschen Streß. Der kann sogar tödlich enden.

Rückblick, 30. Mai 2017, Frohn-stetten in Baden-Württemberg: Nachmittags spaziert eine ältere Dame auf einem Fußweg zwischen zwei Grundstücken entlang. In dem Moment springt ein Kangal über den Zaun, beißt die Rentnerin tot. Alarmierte Polizeibeamte erschießen ihn, anschließend noch zwei weitere Hunde, die sich ebenfalls auf dem Grundstück der Halterin in einem Wintergarten eingepfercht befinden.

Unterordnungsbereitschaft ist nur gering ausgeprägt

Ein Einzelfall? Oder droht eine ähnliche Diskussion wie nach 2000 mit dem Für und Wider der sogenannten Kampfhunde? Die JUNGE FREIHEIT sprach mit Hundetrainer Thomas Kümmel, er leitet seit 1990 die private Hundeschule „Passion“ in Weimar. „Ich habe bisher drei- bis viertausend Hunde in meiner Schule gehabt. Grundsätzlich mal: Rassegesetze bewirken gar nichts“, sagt Kümmel. „Gebissen wird querbeet durch die Hundelandschaft.“ Kümmel sieht die Schuld an Beißvorfällen in dem nicht artgerechten Umgang. „Unser Hauptproblem ist doch die Verniedlichung des Hundes und die Verleugnung seines Aggressionspotentials!“

Herdenschutzhunde sehen im Welpenalter wie überdimensionierte wollige Wonneproppen aus. Allerdings werden aus Kindern Leute. Im Fall der HSH erst spät, mit drei Jahren, dafür werden aus ihnen schwere, kräftige und wehrhafte Hunde. Rüden erreichen, je nach Rasse, ein Stockmaß von achtzig Zentimetern und 80 Kilo. Ursprünglich stammen sie aus dem Kaukasus, den Pyrenäen, den Alpen oder der Türkei. Ihre Aufgabe ist es, Ziegen- und Schafherden auf den Weiden vor Wölfen und Bären, aber auch vor Viehdieben zu beschützen. Der Kangal, ein türkischer Herdenschutzhund, wird auch in Südafrika zum Weidetierschutz vor Großkatzen erfolgreich eingesetzt. „Der Herdenschutzhund“, sagt Kümmel, „ist nicht aggressiv, er ist vielmehr der Philosoph unter den Hunden. Er liegt, schaut und wacht.“

Was phlegmatisch wirkt, ist clever. Der HSH soll sich nicht wie ein Berserker auf jeden vermeintlichen Eindringling werfen. Das würde, bedingt durch seine Abwesenheit von der Herde, dann auch diese in Gefahr bringen. Lage peilen, Einschätzen und selbständig Schlüsse ziehen. Dann seine Entscheidung umsetzen: Den Eindringling erst warnen, um ihn in die Flucht zu schlagen. Weicht der nicht zurück, umkreist der Hund ihn und wird ihn gegebenenfalls, als ultima ratio, angreifen. Alles andere ist sinnlos und könnte ja selbst das Leben kosten. Eine ressourcenschonende, eine defensive Verteidigung.

Allerdings – und hier liegt der Hund begraben – gibt es ein paar Besonderheiten: Der HSH arbeitet autark. Er braucht niemanden, der ihm einen Befehl erteilt. Er hat zu Menschen auch kaum soziale Kontakte. Dementsprechend ist seine Unterordnungsbereitschaft gering. Was in der einsamen Bergwelt sinnvoll ist, wird in mitteleuropäischen Städten zum Problem. Denn erschwerend kommt hinzu, daß der HSH darüber hinaus auch noch sehr territorial ist. „Die Haltung eines heutigen Herdenschutzhundes, der als Familien- und Begleithund gezüchtet wird, ist in der Stadt prinzipiell möglich, aber nicht in einer engen Wohnung, wenn man dreimal am Tag mit dem Tier spazierengeht“, sagt Kümmel.

In einem Gutachten zur Haltung von Herdenschutzhunden von Dorit Urd Feddersen-Petersen, Fachtierärztin für Verhaltenskunde an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, ist zu lesen, daß Halter dieser Rassen über besondere Fähigkeiten und Haltungsmöglichkeiten verfügen müssen. Dazu gehören eine 2,50 Meter hohe Grundstücksumzäunung mit Schrägabweisern nach innen und Warnschildern. Kümmel sieht das auch so – und er sagt: „Maulkorb und Leine sind bei diesen Rassen Pflicht.“

„Mangelhaft menschensozialisiert“

Ein weiteres Problem entsteht durch ihre Herkunft. Laut Welpenstatistik des Verbands für das Deutsche Hundewesen (VDH) wurden 2015 offiziell nur 14 Kaukasische Owtscharka, fünf Komondor und kein einziger Kangal neu registriert. Feddersen-Petersen macht in ihrem Gutachten darauf aufmerksam. Und zwar auf den Import und Verkauf von Tieren, „die mangelhaft menschensozialisiert sind, im Welpenalter aus ihren Ursprungsländern in ein Umfeld verbracht werden, dem sie nicht gerecht werden können, das sie ständig überfordert. Hochgefährliche Situationen können sich so entwickeln.“

Speziell ist hier der Kangal zu nennen. Der Anatolische Hirtenhund ist dort eine Art Nationalheiligtum und wird sogar beim Militär eingesetzt. Auch hierzulande wird er vermehrt gehalten. In Hamburg und Hessen ist er als „vermutlich gefährlicher Hund“ eingestuft. In einem SWR-Beitrag sagte Marita Bohrer vom Tierheim Heidelberg: „Ein Kangal ist hier in Deutschland völlig fehl am Platze. Wenn es nach mir ginge, sollten sie da bleiben, wo sie gezüchtet werden – in Anatolien. Wo sie ihre Herden bewachen können, weil da haben sie eine sinnvolle Aufgabe, und da ist das Verhalten, das sie an den Tag legen, auch gewünscht.“ Unter dem Video ist ein Zuschauerkommentar zu lesen: „Nicht einmal einem Hund gewährt man die Chance, sich in Deutschland zu integrieren. Dann wundert man sich, wenn die Integration nicht gelingt.“ Der Kangal wird zum Politikum.

Broschüre „Umgang mit Herdenschutzhunden“ des Sächsischen Umweltministeriums: publikationen.sachsen.de/