© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/17 / 25. August 2017

Zur politischen Semantik des Begriffs „Entartung“
Nervenschwache Antimoderne
(dg)

Wie „Lügenpresse“ vermag das kurze bundesdeutsche Kollektivgedächtnis den Begriff „entartet“ nur mit „Nazi“ und „antimodern“ zu assoziieren. In seinem Essay zu „Dekadenz, Entartung, Nervosität im Fin de Siècle“ erinnert der Heidelberger Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart jedoch an eine wesentlich ältere und zudem gegenläufige Semantik. Max Nordau (1849–1923), der Hausarzt des Zionistenführers Theodor Herzl, war mit seinem dicken Pamphlet „Entartung“ (1892) zwar nicht der erste, aber der wirkungsmächtigste Autor, der diesen naturwissenschaftlich-medizinischen Begriff ins Kulturkritische übersetzte. Entartet und degeniert waren für den militanten „Nationaljuden“ nicht, wie später für Konservative und Völkische, die Modernen, sondern die Antimodernen. Mithin jener große Teil des Bürgertums, der in „tief wurmender Unzufriedenheit dem Bestehenden“ opponierte (Universitas, 4/2017). Ihre „rückwärts gewandte Abneigung“ interpretierte Nordau als „massive Schwellenangst der Deutschen gegenüber den sozialen, politischen und technologischen Anforderungen der Moderne“. Die „krankhafte Reaktionsweise“ dieser Heerschar von „Entarteten“ entspringe der Unfähigkeit, in der Unruhe des kapitalistischen „Kampfs ums Dasein“, in „dumpfen Werkstätten, Fabriken, Comptoirs“ die erforderliche „Nervengesundheit“ zu bewahren. 


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