© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/17 / 25. August 2017

Er konnte die Augen nicht mehr verschließen
Zwischen allen Fronten: Im August 1957 flüchtete der Kommunist und Schriftsteller Alfred Kantorowicz aus der DDR
Jörg Bernhard Bilke

Das Aufsehen damals war ungeheuerlich: Ein führender Kommunist lief aus dem SED-Staat zum „Klassenfeind“ nach West-Berlin über! Das hatte es seit Wolfgang Leonhards Flucht 1949 nicht mehr gegeben. Alfred Kantorowicz, KPD-Mitglied seit 1931, Spanienkämpfer 1937/38, deutscher Emigrant in Frankreich und den Vereinigten Staaten und seit 1950 Professor an der Ost-Berliner Humboldt-Universität, hatte im Sommer 1957 mit dem SED-Regime gebrochen und am 20. August, von Verhaftung bedroht, die Sektorengrenze als politischer Flüchtling überschritten.

Die Schimpfworte, die ihm, dem „Verräter der Arbeiterklasse“, daraufhin aus der DDR nachgerufen wurden, sollten sein Ansehen beschädigen und seine Eingliederung in die westdeutsche Gesellschaft erschweren. So schrieb der DDR-Schriftstellerverband, allen voran die angesehene und berühmte Anna Seghers, am 25. August im Neuen Deutschland: „Sich auf Heinrich Mann berufend, gesellt er sich zu denen, die den großen Schriftsteller aus dem Lande trieben und sein Andenken heute noch mit Haß verfolgen.“

Absage an das Ulbricht-Regime

In derselben Zeitung schrieb eine Gruppe junger Literaturmarxisten: „Wir wissen, daß es in den Zeiten härtesten Klassenkampfes stets Intellektuelle gab, die zu schwanken begannen und zum Feind überliefen“ (30. August). Die damals noch in Prag lebende Leonie Mann, Heinrich Manns Tochter, distanzierte sich in der Wochenzeitung Sonntag (1. September) vom Freund und Förderer ihres Vaters. Im gleichen Blatt erklärte Chefredakteur Bernt von Kügelgen: „Es muß festgestellt werden, daß Kantorowicz nicht eine einzige wissenschaftliche, theoretische Arbeit publiziert hat.“

In der folgenden Ausgabe des Sonntag warf ihm Karl-Eduard von Schnitzler vor: „Was weißt Du überhaupt von unseren Arbeitern? (…) Du bist ein Literaturwissenschaftler; aber was weißt Du von politischer Ökonomie, vom ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus? (…) Dem von Dir verlassenen Staat aber, der von Dir geschmähten Partei, der von Dir geleugneten Idee des Sozialismus gehören Gegenwart und Zukunft“ (8. September). Und Kulturminister Johannes R. Becher warf sich im Neuen Deutschland vor, ihn nicht rechtzeitig aus dem Vorstand des DDR-Schriftstellerverbands entfernt zu haben (26. Oktober).

Der Wechsel der politischen Fronten, im Alter von 58 Jahren und mitten im Kalten Krieg, war zweifellos eine mutige Tat, die aber zunächst in Westdeutschland nicht anerkannt wurde, weil man Alfred Kantorowicz (1899–1979) vorwarf, im Spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite gekämpft und nach 1945 dem SED-Staat gedient zu haben. In seiner Erklärung, abgegeben am 22. September 1957 im Sender Freies Berlin und einen Tag später nachgedruckt im Berliner Tagesspiegel unter dem Titel „Warum ich mit dem Ulbricht-Regime gebrochen habe“, zählte er auf, was er alles mit der Flucht aufgegeben hatte: die Professur an der Humboldt-Universität mit dem Lehrauftrag für Neueste Deutsche Literatur, die Arbeit als Direktor des Heinrich-Mann-Archivs an der Deutschen Akademie der Künste, wo er den aus Kalifornien 1950 überstellten Nachlaß zu sichten und zu ordnen hatte, die Edition der Heinrich-Mann-Ausgabe und seine eigene Arbeitsbibliothek mit 8.000 Bänden. Was vielleicht noch schwerer wog, war der jähe Abschied von „Freunden und Kampfgefährten“ aus dem Widerstand, aus dem Exil und aus dem Spanischen Bürgerkrieg: „Sie alle werden nun gezwungen sein, mir nachzuspeien, mich zu verleumden, mich einen Verräter, einen Renegaten (…) zu schimpfen, nur weil ich mit dieser Notwendigkeit meiner Absage an das Ulbricht-Regime mir selber treu zu bleiben versuche.“

Kantorowicz’ Flucht war nur der letzte, nicht widerrufbare Schritt im politischen Leben eines marxistischen Intellektuellen, der abgeschworen hatte und sich nun einreihte in die wachsende Schar der Exkommunisten. In Horst Krügers Dokumentation „Das Ende einer Utopie“ (1963) hat Kantorowicz seinen Abfall von der DDR-Spielart des Marxismus-Leninismus noch einmal begründet. Eine Rolle bei dieser inneren Distanzierung spielte das Schicksal seiner 1947 von der sowjetischen Militäradministration lizenzierten Zeitschrift Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit, die schon im Titel die Orientierung auf Ausgleich, Entspannung, Vermittlung zwischen den Fronten erkennen ließ, Ende 1949 aber ohne Vorankündigung liquidiert wurde, weil sie in dieser Ausrichtung offensichtlich nicht mehr in die politische Landschaft paßte.

Auch von weiteren Erschütterungen blieb sein kommunistisches, im Exil erhärtetes Weltbild nicht verschont. In seiner Erklärung nannte er die Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 und die „gerade für viele alte Kommunisten (…) herzabdrückende und nervenaufreibende ungarische Tragödie“ vom Herbst 1956 und die unmittelbar danach einsetzende „neue Terrorwelle, besonders gegen die Intellektuellen“. Gemeint waren die Verhaftung und Verurteilung antistalinistischer Oppositionsgruppen um Wolfgang Harich und Erich Loest in Berlin, Halle und Leipzig. Abschließend hieß es dann in dieser Erklärung: „Nein, ich konnte nicht mehr die Augen verschließen vor dem fast mythischen Phänomen, daß, während wir gläubig für Freiheit und Recht und gegen die faschistische Barbarei gekämpft hatten, Faschismus und Barbarei hinter uns wieder auferstanden waren in Wort und Tat und Geist in den Amtsstuben der Apparatschiks.“

Stasi setzte ehemalige Studenten auf ihn an

Diese Erklärung eines prominenten Altkommunisten wirkte wie ein Donnerschlag. Indirekt zeugten davon die in allen DDR-Zeitungen veröffentlichten Distanzierungen von dem „Verräter“, der nun aus der „Frontstadt Westberlin“ gegen seine einstigen Genossen „hetzte“, und die damit verbundenen Ergebenheits- und Unterwerfungsgesten gegenüber Staat und Partei. Auch der ungarische Volksaufstand 1956 hatte die Ost-Berliner Funktionärskaste, die ähnliche Unruhen wie 1953 befürchtete, in Angst und Schrecken versetzt.

In seiner Rede vom 23. Oktober 1957 vor der SED-Kulturkonferenz forderte Alexander Abusch, damals Staatssekretär im Kulturministerium, die Schriftsteller und Kritiker ultimativ dazu auf, „noch tiefere Lehren aus den Vorgängen und Erfahrungen seit dem Herbst des vorigen Jahres zu ziehen“. Im nächsten Satz kam er dann auf den „Klassenfeind“ Alfred Kantorowicz zu sprechen: „Nur in einer Atmosphäre ungenügender geistiger Auseinandersetzungen und eines nicht kämpferischen Auftretens für unsere gemeinsame Sache des Marxismus-Leninismus konnte es auch möglich werden, daß ein solch schuftiger und zugleich jammervoller Verräter wie Kantorowicz, der sich lange vorher in seiner republikfeindlichen Gesinnung (…) enthüllt hatte, noch während der ungarischen Ereignisse und später sein verräterisches Werk, bis zu seiner Abberufung durch seine Auftraggeber, vollenden konnte.“

Interessiert am weiteren Lebensweg des Flüchtlings im „kapitalistischen Ausland“ war auch das Ministerium für Staatssicherheit. Dort wurde der abtrünnige Professor als „operativer Vorgang Renegat“ bearbeitet, wobei mindestens zwei ehemalige Studenten auf ihn angesetzt wurden, darunter Ursula Püschel. Kantorowicz war ihr Doktorvater, wegen dessen „Republikflucht“ konnte sie ihre Dissertation über Erich Weinert aber nicht abschließen; erst 1965 wurde sie mit einer Arbeit über Bettina von Arnim promoviert. Sie erhielt im August 1960 unter dem Decknamen „Dichter“ den Auftrag, Kontakt mit Alfred Kantorowicz in München aufzunehmen. Ob sie diesen Auftrag ausführte und welche Ergebnisse er brachte, ist nicht bekannt.

Die ersten vier Jahre in München nach seiner Flucht verliefen für Alfred Kantorowicz unerfreulich. Bayerische Behörden verweigerten ihm die Anerkennung als politischer Flüchtling, rechte Gruppen polemisierten gegen ihn, weil er Kommunist gewesen war, linke mit starken DDR-Sympathien, weil er kein Kommunist mehr sein wollte.

Erst in Hamburg, wo Kantorowicz seit 1962 lebte, wurde ihm öffentliche Anerkennung zuteil: Am 1. Dezember 1966 erkannte ihm das Bundesverwaltungsgericht den Flüchtlingsstatus zu; im Jahr seines 70. Geburtstags (12. August 1969) erhielt er den Thomas-Dehler-Preis des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen; zugleich erschien eine Festschrift, mit der seine Leistungen gewürdigt wurden, unter dem bezeichnenden Titel „Wache im Niemandsland“.

Exil-Buch mit Details aus dem Emigrantenleben

Was bleibt von Alfred Kantorowicz und seinem Werk als Schriftsteller und Publizist? Einmal ist es unverzichtbar für die Erforschung des deutschen Beitrags im Spanischen Bürgerkrieg. Sein „Spanisches Tagebuch“ (1948), zehn Jahre nach der Niederschrift erschienen, ist eine dem kommunistischen Geschichtsverständnis nach 1945 angepaßte Version des tatsächlich Erlebten, wie ein Vergleich mit dem umfangreicheren „Spanischen Kriegstagebuch“ (1979) aufzeigt.

Auch sein autobiographisches Buch „Exil in Frankreich“ (1971) bietet mit seinen Details aus dem Emigrantenleben deutscher Kommunisten weit mehr an Information, als in einem DDR-Verlag jemals hätte erscheinen können. Erinnerlich ist noch sein Auftreten auf der zweiten Tagung zur deutschen Exilliteratur im Sommer 1972 in Kopenhagen, wo er nachwies, wie verkürzt, verfälschend und abwertend die Exilleistungen deutscher Kommunisten, wenn sie „Renegaten“ geworden waren wie Ernst Bloch (1885–1977), durch die DDR-Geschichtsschreibung dargestellt würden.

Und da ist das bisher kaum ausgeschöpfte „Deutsche Tagebuch“ in zwei umfangreichen Bänden von 1959/61. Diese 1.424 Seiten bieten eine solche Fülle an Informationen über die frühe DDR-Literatur, daß man sie getrost mit den 2006 veröffentlichten Briefen des 2001 verstorbenen Literaturwissenschaftlers Hans Mayer vergleichen kann.






Dr. Jörg Bernhard Bilke, Jahrgang 1937, wurde 1961 bei einem Besuch der Leipziger Buchmesse wegen DDR-kritischer Artikel in einer westdeutschen Studentenzeitung verhaftet und zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.