© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/17 / 18. August 2017

Pankraz,
Stechmücken und der ästhetische Imperativ

Als „ökologischer Fundamentalist“ wurde Pankraz von einem Leser apostrophiert, nachdem dieser dessen Urlaubskolumne über das große Insektensterben zu Gesicht bekommen hatte. „So hättet ihr’s gern“, schrieb er maliziös in seinem Brief, „auch noch die allergemeinste Stechmückenart vor dem Aussterben bewahren, selbst wenn darüber die ganze  Menschheit Schaden nähme“.

Auch Bernhard Grzimek (1909–1987), der berühmte Zoologe und ein ausgesprochenes Lieblingsvorbild für Pankraz, bekam in dem Brief sein Fett weg, weil er einst auf die Frage, wie er denn einmal zu Tode kommen wolle, spontan geantwortet hatte: „Von einem Löwen gefressen werden“. Das, so der Briefschreiber, sei der Gipfelpunkt von Menschenverachtung. Pankraz seinerseits fand die Antwort eher großartig. Der stolze Mensch neigt sein Haupt vor dem natürlichen Gang der Dinge, erklärt sich ausdrücklich einverstanden damit und bereit, dieses Einverständnis mit dem Leben zu besiegeln.

Dann erinnerte er sich an die Lektüre der Londoner Times, wo er gelesen hatte, daß die ebenfalls sehr tierliebende ehemalige indische Ministerpräsidentin Indira Ghandi (1917–1984) in einem Disput über einen menschenfressenden Tiger gesagt habe, man dürfe das schöne Tier auf keinen Fall abschießen; es gäbe ja so wenige (schöne) Tiger – und so viele (häßliche) Menschen, gerade in Indien! Ihr sprang laut Times ein berühmter Zoologe aus Manchester bei, welcher ausführte, daß er wie einst Jephta sein eigenes Töchterchen opfern würde, wenn er damit eine Tierart vor dem Aussterben retten könnte.

Da sah die Bereitschaft, sich aus ökologischen Gründen fressen zu lassen, schon sehr viel problematischer aus. In abstracto liest sich dergleichen ja leicht, aber wie reagiert man, wenn es wirklich ernst wird? Wenn man etwa als Redakteur über die audiovisuelle Einsendung eines anderen, ebenfalls berühmten Professors entscheiden muß, der die großen Seuchen, die uns heimsuchen, als Hoffnung machendes Instrument der Natur zur Bevölkerungsregulierung beschreibt und mittels vieler Tabellen berechnet, wie viele Milliarden Menschen dahingerafft werden müßten, „damit die Tier- und Pflanzenwelt wieder einigermaßen Luft bekommt“?
Selbst diejenigen, die der Rede vom „notwendigen ökologischen Gleichgewicht“ mißtrauen (weil es in der Erdgeschichte nie ein derartiges Gleichgewicht gegeben hat), müssen einräumen, daß es gegenwärtig zu viele Menschen auf der Welt gibt und daß daraus horrende Gefahren erwachsen. Dennoch schrecken die meisten davor zurück, die Sache wie Professor Grzimek & Co. ausschließlich aus der Perspektive der Tiere zu betrachten, und sie haben damit, wie Pankraz findet, völlig recht.

Denn nicht nur schadet die Bevölkerungsexplosion auch der Menschheit selbst; noch wichtiger ist, daß es eine „Tierperspektive“, von der her geurteilt werden kann, gar nicht gibt. Die „Vertreter des Tierstandpunkts“, deren Anzahl hierzulande von Tag zu Tag anschwillt und die sich und andere lieber von Löwen oder von giftigen Insektenvertilgungsmitteln töten lassen, als dem Aussterben auch nur einer einzigen Teppichmilben- oder Bandwurmart zuzusehen, vertreten in Wahrheit ebenfalls einen rein menschlichen Standpunkt, nämlich den der Ästhetik gegenüber dem der Moral.
Sie fragen nicht: Wer ist mir ethisch wichtiger, der Mitmensch, der Menschenbruder – oder das Tier? Sondern sie fragen: Was ist schöner, ansehnlicher, vielfältiger, der Anblick einer wimmelnden Menschenmasse in technischem Ambiente – oder der Anblick beispielsweise einer jener prächtigen afrikanischen Großwildaspekte, wie wir sie vom Fernsehen oder von Fotosafaris her kennen? Bei solchem Fragen fällt die Antwort natürlich nicht schwer.

Gäbe es aber den Menschen nicht (den modernen Menschen mit seinem hochentwickelten ästhetischen Natursinn), dann gäbe es auch den herrlichen Großwild-aspekt nicht, sondern an seiner Statt nur ein Durcheinander von Grasabrupfen, Körnerpicken, parasitischem Aussaugen, von Anschleichen, Überfallen und wüstem Fleischzerreißen. Der Natur ist ihre „Schönheit“ ja herzlich gleichgültig. Dermaleinst, wenn die Sonne sich zum „Roten Riesen“ ausweiten wird, wird sie unseren „blauen Planeten“ mit all seiner Differenziertheit und all seinem Leben einfach wegbrennen.
 Wenn dann keine technisch hochentwickelte Menschheit da ist, die sich in der Lage sieht, diesen Planeten zu verlassen und in den Tiefen des Weltalls eine neue Heimat zu etablieren, wird jedwede Erinnerung an die Erde gänzlich und für immer abgestorben sein, inklusive aller Großwildfaunen und ihrer feenhaften Schönheiten. Es wird nicht einmal mehr möglich sein, eine Erinnerung an jene ökologischen Fundamentalisten aufzurichten, die sich lieber von Löwen fressen lassen wollten als irgendeine Mückenart aussterben zu lassen.

Der Mensch hat also gegenüber den Tieren oder einer tierreichen, menschenarmen Erde das absolute Prä, nicht nur moralisch, sondern auch ästhetisch und überhaupt ontologisch, seinsmäßig. Sein Aussterben oder Wiedereintauchen in den blinden Kreislauf der Natur würde auch das Schicksal der Tiere besiegeln und könnte Gott niemals wohlgefällig sein.
Deshalb muß es dabei bleiben, daß unsere führenden Geister weiter respektvoll und unzynisch vom Menschen sprechen, gerade angesichts der Bedrohung durch Bevölkerungsexplosion und Umweltverschmutzung. Keine „natürliche“ Seuche wird an der Misere dauerhaft etwas ändern können; dies bleibt Aufgabe des Menschen, und zwar eines Menschen, der sich moralisch, ästhetisch und auch technisch im Sinne von Sophokles immer weiter „unendlich übersteigt“.

Übrigens ist Pankraz durch die aktuelle Affäre um die insektizid vergifteten Hühnereier aus Holland an seiner gemäßigt ökologistischen Grundeinstellung nicht irre geworden. In medial so aufgeregten Zeiten wie der heutigen gehört mehr dazu, um einen an der Güte seines Frühstücks-Eis zweifeln zu lassen.