© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/17 / 18. August 2017

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Überforderter Gesetzgeber
Paul Rosen

Der Fisch, sagt der Volksmund, fängt vom Kopf her an zu stinken. Daran erinnert eine Nachricht, die nun für Aufsehen sorgte: Der Bundestag hat in über hundert Fällen Mitarbeiter als Scheinselbständige beschäftigt, etwa als Besucherführer. Solche Mitarbeiter erhalten nur ein Honorar, Sozialbeiträge und Lohnsteuern werden nicht abgeführt.

In einem von der Rentenversicherung angestrengten Prozeß vor dem Landessozialgericht Berlin wurde der Bundestagsverwaltung per Urteil bescheinigt, daß als Freiberufler angeheuerte Mitarbeiter, die Besucher durch den Reichstag führen oder Info-Stände des Bundestages betreuen, in Wirklichkeit hätten angestellt werden müssen, weil sie wie Arbeitnehmer eingesetzt wurden. Als Folge muß der Bundestag Beiträge zur Kranken-, Renten-, Pflege- oder Arbeitslosenversicherung nachzahlen, möglicherweise auch Lohnsteuern. 3,5 Millionen Euro wurden bereits nachgezahlt, ein viel höherer Betrag dürfte noch fällig werden.

Es ist nicht das erste Mal, daß der Bundestag mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Bereits im Frühjahr wurde bekannt, daß mehrere tausend Beschäftigte des Bundestages und der Fraktionen nach westdeutschem Rentenrecht eingestuft wurden, obwohl sie nach Ost-Rentenrecht hätten behandelt werden müssen (JF 15/17). Denn die meisten Liegenschaften des Bundestages befinden sich im früheren Ost-Berlin. Seit dem Regierungsumzug 1999 war die für alle Arbeiter und Angestellten übliche Regelung, daß der Ort des Arbeitsplatzes über die Einstufung in Rentenrecht Ost oder West entscheidet, vom Bundestag ausgehebelt worden: Als Arbeitsplatz war die Berliner Adresse „Platz der Republik 1“ gemeldet worden. Das ist die Anschrift des Reichstagsgebäudes, wo allerdings fast niemand seinen dauerhaften Arbeitsplatz hat – vom Büro des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) und des Bundestagsdirektors Horst Risse einmal abgesehen.

Lammert und Risse können sich übrigens glücklich schätzen, nicht Chefs von privaten Unternehmen zu sein. Dort hätte die  Vermeidung von Sozialbeiträgen durch die Beschäftigung von Scheinselbständigen in dieser Größenordnung höchstwahrscheinlich zu Gefängnisstrafen geführt. Die Haftung von Politikern für Gesetzesverstöße ist jedoch fast immer null und das Bestrafungsrisiko minimal, wie schon die bisherige Liste von schwerwiegenden Gesetzesverstößen durch Regierung und Bundestag zeigt. Ob es um die Aussetzung der Wehrpflicht, den Ausstieg aus der Atomenergie ohne Gesetz oder die Verstöße gegen die Verträge von Maastricht (Euro-Währung) oder Dublin und Schengen (Asyl- und Flüchtlingsregeln) geht: Stets waren und sind Politiker fein raus.

Für den Bundestag ist es besonders peinlich, daß er sich als Gesetzgebungsorgan nicht an seine eigenen Beschlüsse hält. Falls es daran liegen sollte, daß die Vorschriften so kompliziert sind, daß selbst der Gesetzgeber mit der Einhaltung überfordert ist, dann stellt sich die Frage, wie die betroffene Wirtschaft mit dieser schrottreifen Gesetzgebung klarkommen soll.