© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/17 / 18. August 2017

„Indoktrination und Freibeuterei“
Reicht die Krise Deutschlands tiefer als wir glauben? Ist nicht die Kanzlerin schuld, sondern ist sie Folge einer falschen staatspolitischen Entscheidung zur Zeit der frühen Bundesrepublik? Zu diesem Schluß kommt der Publizist Dimitrios Kisoudis in seinem neuen Buch
Moritz Schwarz

Herr Kisoudis, Sie sagen, der Sozialstaat ist unser Untergang. Warum denn das?
 
Dimitrios Kisoudis: Der Sozialstaat ist nicht das, wofür wir ihn halten. Bei Sozialstaat denken wir an materielle Sicherung, an Abgaben und Leistungen. Dabei handelt es sich bei ihm zunächst einmal um eine staatstheoretische Fiktion.

Wie bitte?

Kisoudis: Es geht um die „Forsthoff-Abendroth-Kontroverse“ der fünfziger Jahre. Eine Auseinandersetzung zwischen den Staatsrechtlern Ernst Forsthoff und Wolfgang Abendroth darüber, ob die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialstaat sein soll oder ein Rechtsstaat.

Nie gehört. Ist die Debatte noch relevant? 

Kisoudis: Ich denke schon. Es war die wichtigste Debatte der alten Bundesrepublik. Wollen wir die heutige Staatskrise verstehen, müssen wir wissen, wo sie ihren Ausgang genommen hat.

Nicht Merkel, rot-grüne Experimente und verpennte Modernisierung sind schuld, sondern diese Debatte?

Kisoudis: Leider ja, jedenfalls der Ausgang der Debatte. Denn der Sozialist Abendroth gewann gegen den Konservativen Forsthoff. Die Weichen wurden also schon in Adenauers Kanzlerschaft falsch gestellt. Daher irren Konservative, wenn sie jene Zeit wieder herbeisehnen. Kanzler kamen und gingen, der Konstruktionsfehler unseres Staates ist geblieben. Er liegt versteckt in staatstheoretischen Debatten.

„Das Grundgesetz als Sozialstaat interpretiert“

Worum genau ging es?

Kisoudis: Darum, ob der Sozialstaat Verfassungsrang hat, wie Abendroth meinte. Oder ob das Grundgesetz einen Rechtsstaat begründet und Soziales nur Aufgabe der Verwaltung ist, wie Forsthoff entgegnete. Damit standen sich zwei Staatsprinzipien gegenüber: Sozialstaat und Rechtsstaat.

Offenbar gab es einen Kompromiß, denn laut Grundgesetz ist die Bundesrepublik „ein sozialer Rechtsstaat“.

Kisoudis: Ein sozialer Rechtsstaat ist noch kein Sozialstaat. Erst Verfassungsrichter und Staatswissenschaftler haben durch ihre Interpretation des Grundgesetzes aus der Bundesrepublik einen Sozialstaat gemacht.

Sozial- und Rechtsstaatsprinzip regeln doch völlig verschiedene Bereiche und kommen sich gar nicht ins Gehege.

Kisoudis: Rechtsstaat bezieht sich sozusagen auf die Form, Sozialstaat auf den Inhalt des Staates. Somit steht der Sozialstaat über dem Rechtsstaat und wirft seinen Schatten auf die Grundrechte des Grundgesetzes. Er macht rechtsstaatliche Abwehrrechte zu sozialstaatlichen Anspruchsrechten.

Würden Sie bitte aufhören, mich zu verwirren!

Kisoudis: Es ist ganz einfach: Der Rechtsstaat versteht Grundrechte als Abwehrrechte, die den Bürger und dessen Privatleben vor dem Zugriff des Staates schützen. Der Sozialstaat dagegen versteht Grundrechte als Ansprüche – nämlich des Bürgers gegenüber anderen Bürgern. Natürlich kann nur der Staat diese Ansprüche durchsetzen, weil er das Gewaltmonopol hat. Der Staat wurde vom strengen Vater zur fürsorglichen Mutter. Damit war er fein raus.

Wieso das?

Kisoudis: Anstatt dem Staat zu mißtrauen, weil er seine Macht mißbrauchen könnte, sollen wir dem Staatsbürger mißtrauen. Zum Beispiel: Der deutsche Bürger ist rassistisch, sexistisch und islamophob – bekommen wir ständig zu hören. Oberste Aufgabe des Staats soll es also sein, Ansprüche ethnischer, sexueller oder religiöser Minderheiten durchzusetzen. Ganz nach der sozialstaatlichen Grundrechts-Interpretation. Um diese Aufgabe zu erfüllen, mischt sich der Staat ins Privatleben der Bürger ein, er zwingt etwa den moslemischen Konditor, Hochzeitstorten an homosexuelle Paare zu verkaufen. Oder bestraft den protestantischen Unternehmer, der keine Moslems einstellen will. Und doch bleibt der Sozialstaat ein Gewaltmonopolist wie jeder Staat vor ihm. Er setzt diese Gewalt aber nicht ein, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Vielmehr spielt er gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aus und gibt so dem latenten Bürgerkrieg Nahrung.

Sie meinen also, das intervenierende Prinzip des Sozialstaats führt zur Drangsalierung der Bürger. Aber wieso ist er an der aktuellen Krise schuld?

Kisoudis: Die Grundrechte des Rechtsstaats sind Normen – und bleiben Normen. Die Grundrechte des Sozialstaats dagegen werden zu „Werten“ verklärt. Werte sind zivilreligiöse Glaubenssätze, deren Geltung keine Grenzen kennt. Beziehungsweise nur die Grenzen, die der Zeitgeist jeweils vorsieht. Denn auch Werte brauchen echte Menschen, die vorschreiben, was als wertvoll oder unwert zu gelten hat. Das sind heute in erster Linie die Hohepriester der Sozialwissenschaften, in zweiter Linie ihre Helfershelfer in den juristischen Seminaren. Erst in dritter Linie verkünden Richter dann Urteile, die am linken Zeitgeist orientiert sind.

„Die Grenze zwischen Staat und Gesellschaft gesprengt“

Butter bei die Fische, nennen Sie ein Beispiel!

Kisoudis: Gerne, etwa die Karlsruher Entscheidung von 2012, wonach die Geldleistungen für Asylbewerber erhöht werden mußten. Die Verfassungsrichter argumentierten ausdrücklich mit dem Sozialstaatsprinzip und lasen aus dem Artikel 1, der Verpflichtung zur Menschenwürde, einen Anspruch heraus, auch als Asylbewerber am sozialen Leben in Deutschland teilzuhaben. In der Folge schoß die Zahl der Asylanträge in die Höhe, von 2011 bis 2013 über hundert Prozent. Diese Entscheidung ist wortwörtlich eine Fluchtursache, ihre Sogwirkung dürfte die Schubwirkung sämtlicher Kriege übersteigen. So schleicht sich Zivilreligion ins Recht ein und stürzt den Staat in die Krise. Der Sozialstaat macht es möglich.

Wieso kann es den Sozialstaat nicht auch ohne diesen ideologischen Überbau geben?
 
Kisoudis: Weil der Sozialstaat eine Form des „totalen Staates“ ist. Denn indem er den Leuten ins Privatleben pfuscht, sprengt er die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft, öffentlich und privat. Genau das hat der Staatsrechtler Carl Schmitt gemeint, als er gegen Ende der Weimarer Republik die Wendung „totaler Staat“ prägte, um die weltanschaulichen Ansprüche der Parteien gegenüber dem hilflosen Reichspräsidenten Hindenburg zu kennzeichnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte sein Schüler Ernst Forsthoff die Züge des totalen Staats im Sozialstaat wieder und bezog nun Stellung für Recht und Vertragsfreiheit. Wie der totale Staat reguliert der Sozialstaat schematisch das Privatleben der Bürger. Dazu braucht es natürlich eine Ideologie, die den ganzen Menschen erfaßt. In der Bundesrepublik beginnt das etwa schon 1950 mit der Forderung „gleicher Lohn der Frau für gleiche Arbeit“ – und zieht sich bis zu den heutigen Frauenquoten und der Debatte um ein angeblich geschlechtsspezifisches Lohngefälle – die sogar beim linken Flügel der AfD in Thüringen auf Anklang stößt! Übrigens kritisiere ich weniger das Prinzip „gleiche Arbeit, gleicher Lohn“ als das, was dahintersteht und sich dieses Prinzip zunutze macht: den feministischen Überbau, der sich von der Familie bis zur Arbeit über das gesamte Privatleben erstreckt. Also kein Sozialstaat ohne einen solchen ideologischen Überbau.

Über nichts sind sich die Deutschen so einig wie über das Sozialstaatsprinzip. Selbst wer Ihre Kritik teilt, wird nicht bereit sein, auf unsere Sozialsysteme zu verzichten.

Kisoudis: Wie realistisch ist es überhaupt, daß der Sozialstaat so überleben wird, wie wir ihn zu kennen glauben? Die Sozialleistungsquote ist seit 2015 trotz Wirtschaftswachstum rasant angestiegen. Wenn der Sozialstaat infolge sinkender Geburten, steigender Kosten und Massenmigration kollabiert, wird es viel härter werden als bei einem geordneten Umbau. Übrigens inklusive Aufstände jener Migranten, die dann nicht mehr durch Alimentierung ruhiggehalten werden können.

Was sagen Sie voraus, wenn wir den Sozialstaat beibehalten?

Kisoudis: Die Versuche, auch auf EU-Ebene einen Sozialstaat aufzubauen, sind im vollen Gang. Dieser europäische Sozialstaat wird dafür sorgen, daß sich überall in Europa illegale Einwanderer niederlassen – letztliFch auf Kosten der Deutschen selbstverständlich. Aber die Kolonisierung unter umgekehrten Vorzeichen hat natürliche Grenzen. Sie hängt davon ab, daß der Euro weiter künstlich am Leben erhalten wird. Sie hängt an der Leistung einer deutschen Wirtschaft, die unter Beschuß steht – siehe Diesel-Skandal. Und schließlich ist sie auch von der Duldsamkeit des deutschen Nettozahlers abhängig. Berlin und Brüssel müssen die ideologische Indoktrination um so mehr verstärken, je grotesker die Ansprüche werden. Antidiskriminierung ist das Schlagwort.

Sie sagen, die Vermischung von Sozialstaat und Antidiskriminierung sei regelrecht „das Ziel“. Wessen Ziel?
 
Kisoudis: Antidiskriminierung folgt zunächst einmal der sozialstaatlichen Logik, daß Grundrechte wie Religionsfreiheit privatrechtliche Ansprüche begründen. Allerdings wird der Sozialstaat auch zunehmend in dieser Richtung ausgebaut, angetrieben von einflußreichen linken Gruppen wie der Genderlobby, unter dem Geleitschutz der etablierten Parteien – längst auch von Union und FDP. Inwieweit Finanzinteressen oder Großkonzerne hinter jenen Gruppen stehen, ist schwer zu sagen.

Sind es nur „linke Gruppen“?

Kisoudis: Nein, immer stärker kommen auch Einwandererverbände dazu. Aus dem Recht auf Schutz vor staatlicher Ungleichbehandlung wird ein Anspruch auf totale Antidiskriminierung. Daraus entstehen Vorrechte auf Leistungen. Sprich, angeblich besonders Benachteiligte erhalten besonders viel Förderung. Nebeneffekt: Diese Gruppen wachsen und werden mächtiger. Wir erleben das bei den Moslems: Je mehr es sind, desto selbstbewußter stellen ihre Vertreter politische Forderungen, und zwar im Jargon des Sozialstaats. Sie sagen nicht: Wir wollen Macht. Sondern: Wir fühlen uns diskriminiert! Damit das aufhört, müßt ihr uns in bestimmte Machtpositionen heben. Und die deutschen Eliten spielen dieses Spiel genüßlich mit.

Was ist Ihr Lösungsvorschlag?

Kisoudis: Der Ordnungsstaat.

Ist das nicht der Rechtsstaat?
 
Kisoudis: Nein, der idealtypische Rechtsstaat war das Bismarckreich. Das Bürgertum durfte sich mit Gesetzen beschäftigen, während Kanzler und Kaiser die Ordnung sicherten. Der Rechtsstaat setzt eine gewisse Rationalität voraus, ein gebildetes Bürgertum, einen kulturellen Konsens. Die Bürger akzeptieren Gerichtsurteile oder Anweisungen der Polizei, sie halten sich an die Regeln. Heute aber greift Irrationalität um sich. Immer mehr kulturfremde Einwohner fühlen sich durch Ordnungsmaßnahmen provoziert oder diskriminiert. Das geht so weit, daß Richter anscheinend mit Absicht milde Urteile sprechen – weil sie durch die Sippe eines Angeklagten bedroht werden oder Angst haben, sich mit politisch korrekten Positionen anzulegen. Nicht die Gewaltpotentiale in der Gesellschaft kuschen vor dem Rechtsstaat, sondern dieser vor ihnen. Die Folge: Der Rechtsstaat erodiert. Deshalb orientiert sich der Ordnungsstaat am älteren Konzept des Obrigkeitsstaats. Staat und Staatsbürger stehen zueinander im Verhältnis von Schutz und Gehorsam. Was äußere Bedrohungen und innere Unruhen angeht, braucht der Staat freie Hand. Er muß den sozialen Frieden wiederherstellen, bevor das Recht wieder Gehör finden kann.

„De facto ist der Sozialstaat ein rechtsfreier Raum“

Klingt nach Polizeistaat.
 
Kisoudis: Ja, Metternich statt Bismarck. Sehen Sie, in Singapur darf man nur mit ärztlichem Rezept Kaugummi kauen, auf Graffiti stehen Körperstrafen. Mit welcher Konsequenz? Singapur gilt als eines der freiheitlichsten und wohlhabendsten Länder der Welt. Natürlich sind Körperstrafen in unserer Rechtskultur inakzeptabel. Aber auch in Deutschland muß der Staat solchen Respekt im Kleinen erzwingen, wenn er seine Einrichtungen wieder respektiert wissen will.

Wie also kann er das tun?

Kisoudis: Die Polizei ist heute eine Einrichtung, die Schaden nur aufnimmt. Sie muß aber Schaden verhindern, ihre Aufgabe ist es nämlich, die Bürger zu schützen. Sie ist Staatsgewalt, und als solche muß ihre Autorität respektiert werden. Die Polizei muß in „No-go-Areas“ so machtvoll präsent sein, daß gar nicht erst der Eindruck entsteht, es gebe rechtsfreie Räume. Sonst war es das mit unserem Rechtsstaat.

So pessimistisch?

Kisoudis: Das war noch optimistisch. In letzter Konsequenz ist der Sozialstaat nämlich ein rechtsfreier Raum. In ihm herrschen Indoktrination und Freibeuterei. Das gilt es endlich zu begreifen.


Dimitrios Kisoudis Der Publizist ist politischer Berater im Europäischen Parlament in Brüssel. Geboren 1981 im hohenlohischen Öhringen, studierte er Anthropologie, Romanistik und Hispanistik in Freiburg und Sevilla. Sein Buch „Was nun? Vom Sozialstaat zum Ordnungsstaat“ ist nach Rolf Peter Sieferles „Das Migrationsproblem“ nun als zweiter Band in der „Werkreihe von Tumult“ des Manuscriptum-Verlags erschienen.

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