© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/17 / 11. August 2017

Gesicht zeigen
Architektonischer Glanz: Nicht nur ins Berliner Stadtbild kehren Stuckfassaden wieder zurück
Peter Möller

Schuld an der ganzen Misere ist Adolf Loos. Wer sich auf die Suche nach den Ursachen dafür macht, daß viele Hausfassaden in unseren Städten schmucklos und abweisend erscheinen, landet ziemlich schnell bei dem 1870 geborenen österreichischen Architekten. Loos hatte an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert dem Fassadenschmuck den Kampf angesagt. In seiner 1908 erschienenen programmatischen Streitschrift „Ornament und Verbrechen“ legte er die theoretischen Fundamente für die Abkehr vom Historismus in der Architektur und das bald um sich greifende gesichtslose Bauen der Moderne.

Was heute viele als langweilig und einfallslos empfinden, wurde von ihm und seinen Mitstreitern als zukunftsweisend propagiert. „Der moderne Mensch, der Mensch mit den modernen Nerven, braucht das Ornament nicht, er verabscheut es“, schrieb er in seiner wegweisenden Kampfschrift. Und der Architekt Loos beließ es nicht dabei, theoretische Schriften zu verfassen – er setzte seine für damalige Verhältnisse radikalen architektonischen Vorstellungen auch in die Tat um.

1909 erhielt er in Wien den Auftrag zum Bau eines Geschäftshauses gegenüber der Hofburg. Loos nutzte die Gelegenheit und verwirklichte seine Vorstellungen von einem ornamentlosen Gebäude. Damit löste er eine heftige Kontroverse aus, die ihm sogar Ärger mit der Baupolizei eintrug, die die Baustelle zeitweise stilllegte. Und auch der greise Kaiser Franz Joseph schaltete sich ein und beklagte, daß er aufgrund des seiner Ansicht nach wenig erquicklichen Anblicks des neuen Hauses nicht mehr aus dem Fenster der Hofburg schauen könne. Aufgrund der glatt verputzten Fassade und des Fehlens jeglichen Dekors, wie etwa Gesimse oder Fenster-Umrahmungen, hatte das von Loos errichtete schmucklose Gebäude, das im schroffen Gegensatz zu den sonstigen teilweise überbordenden Häuserfronten der damaligen Donau-Metropole stand, schnell einen Spitznamen weg: „Haus ohne Augenbrauen“.

Auch wenn die radikale Art und Weise, wie Loos seine Abneigung jeglicher Ornamentik zum Ausdruck brachte, zumeist auf Ablehnung stieß: ein gewisses Unbehagen gegen die teilweise übermäßig verzierten öffentlichen Gebäude und Wohnhäuser der Gründerzeit war zu jener Zeit durchaus nichts Ungewöhnliches mehr. Aus damaliger Sicht waren die Straßenfronten vieler Mietskasernen, wie sie unter anderem zu Tausenden in Berlin hochgezogen wurden, optisch überladen. Es wirkte mitunter, als seien die einzelnen Elemente der Fassade, wie etwa Säulen, Pilaster oder Gesimse, wahllos aus der Grabbelkiste der Architekturgeschichte zusammengesucht worden. Zudem war der Stuck häufig von minderer Qualität und wurde seriell hergestellt.

Dennoch konnte Loos nicht ahnen, welch durchschlagenden „Erfolg“ er mit seinen Ideen vor allem in Deutschland haben würde. Denn sein Vorbild führte nicht nur dazu, daß die Städte vor allem seit dem Ende des Ersten Weltkriegs mit immer schlichteren und eintönigeren Fassaden überschwemmt wurden. Loos setzte auch ein gigantisches Zerstörungswerk in Gang, das vor allem Deutschlands Gründerzeitvierteln – beziehungsweise dem, was der Bombenkrieg davon übriggelassen hatte – nach dem Zweiten Weltkrieg häufig ihr Gesicht raubte.

Vor allem in Berlin, das trotz aller Kriegszerstörungen immer noch von den wilhelminischen Mietskasernen geprägt ist, haben viele Altbauten in den vergangenen Jahrzehnten arg gelitten. Nachdem in den fünfziger und sechziger Jahren häufig der Stuck abgeschlagen und sonstiger Zierat entfernt wurde, wurden später auch noch die zweigeteilten Holzfenster gegen Kunststoffenster ausgetauscht, wodurch sich die einstmals ansprechenden Schauseiten der Gebäude endgültig zu öden Lochfassaden verwandelten. In einer Broschüre des Bezirksamtes von Berlin-Kreuzberg mit dem Titel „Wir bauen die neue Stadt“ von 1956 wurde ein unmißverständliches Ziel formuliert: „Keine tonnenschweren Stuckfassaden mit geschmackloser Pseudostilistik an den Häuserfronten.“ Diese Propaganda hatte Erfolg: Allein in Kreuzberg wurden rund 1.400 Hauser aus der Gründerzeit „entstuckt“.

Bereits in den sechziger Jahren setzte jedoch eine Gegenbewegung ein, die für den Erhalt der überkommenen und noch verbliebenen Fassaden eintrat. Wer den Häusern der Gründerzeit ihr Gesicht nehme, raube ihnen die Identität, lautete das Argument von Architekturhistorikern. Zudem erfuhr die Epoche des Historismus in der Architektur, für die Adolf Loos nur Verachtung empfunden hatte, nun eine Rehabilitierung. Sie wurde als eigenständige und damit bewahrenswerte Stilepoche in der Architektur anerkannt. Zentrales Werk dieser Gegenbewegung war der von Wolf Jobst Siedler herausgegebene Bildband „Die gemordete Stadt“, der den Raubbau an der historischen Architektur in Berlin eindrucksvoll dokumentierte.

Doch diese Trendumkehr kam für viele Fassaden zu spät. Noch bis Ende der siebziger Jahre rückten die Handwerker den verstuckten Häuserfronten massenhaft zu Leibe. In Berlin hielt sich sogar lange die Legende, daß die Stadt Hausbesitzern Prämien gezahlt habe, wenn diese die Fassaden „modernisierten“ und von „reaktionärem“ Zierat befreiten. Mittlerweile hat jedoch ein Architekturhistoriker nachgewiesen, daß es eine solche Prämie niemals gegeben hat. Doch finanzielle Anreize waren häufig auch gar nicht nötig, um viele Hausverwalter davon zu überzeugen, den Stuck abschlagen zu lassen. Denn das war meist sowieso wesentlich kostengünstiger, als den bereits in die Jahre gekommenen, qualitativ nicht sonderlich hochwertigen Stuck aufwendig zu sanieren.

Doch nun heißt es in den Städten immer häufiger: Kommando zurück. Denn längst sind die Altbauten bei Mietern wieder gefragt, und Hausbesitzer wissen, daß sie für ein Haus mit einer ansehnlichen und ansprechenden Fassade im Durchschnitt mehr Miete verlangen können als für einen schmucklosen Kasten. Seit einigen Jahren ist daher eine interessante Entwicklung zu beobachten: Immer mehr Altbauten zeigen wieder Gesicht. Fällige Renovierungen werden häufig dazu genutzt, die glatten Fassaden, die den Augen kaum mehr einen Haltepunkt geben, nachdem vor Jahrzehnten der Stuck abgeschlagen wurde, wieder zu verstucken.

Allerdings wird dabei nicht immer die ursprüngliche Fassadengestaltung komplett rekonstruiert. Weit häufiger kommen reduzierte Ornamente zur Anwendung, um vor allem die Fenster wieder zu betonen. In seiner Minimalversion beschränkt sich der neue Stuck sogar nur auf das Sockelgeschoß des Gebäudes. Doch auch diese zurückgenommenen Varianten der Stuckfassaden geben den Gebäuden etwas von ihrem alten Charme zurück. Und die Zurückhaltung mancher Bauherren ist verständlich: Denn ganz billig ist die Verschönerung der Hausfront nicht: Für die „Neuverstuckung“ einer kompletten 800 Quadratmeter großen Gründerzeitfassade veranschlagen Architekten rund 100.000 Euro. 

Dennoch macht sich der Trend zum Stuck bereits im Stadtbild bemerkbar. Ein herausragendes Beispiel ist die Mommsenstraße in Berlin-Charlottenburg mit ihren herrschaftlichen Gründerzeitbauten. Dort wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Gebäude aufwendig wieder in ihren Originalzustand versetzt und vermitteln so wieder einen Eindruck vom architektonischen Glanz der Kaiserzeit. Und wer heute etwa durch den gründerzeitlich geprägten Bergmannkiez in Berlin-Kreuzberg geht, kann Altbauten mit ganz unterschiedlichen Fassadenschicksalen entdecken. Da sind zum einen prachtvolle Straßenzüge rund um den Chamissoplatz, deren Häuser fast durchgängig noch ihren alten gründerzeitlichen Schmuck tragen. In den umliegenden Straßen dominieren dagegen die „modernisierten“, das heißt entstuckten Fassaden – und nun immer häufiger Häuser mit neuem Stuck.

Doch den alten und neuen Stuckfassaden drohen bereits neue Gefahren. Im Zuge der in den vergangenen Jahren um sich greifenden großflächigen Dämmung von Häusern in Deutschland, die auch vor den eigentlich klimatechnisch wenig problematischen Gründerzeithäusern nicht haltgemacht hat, häufen sich die Fälle, bei denen der Stuck der Dämmschicht zum Opfer gefallen ist. Wenn es schlecht läuft, könnte sich der Klimaschutz in Zukunft also als bester Verbündeter der Ideen von Adolf Loos erweisen und eine neue Welle der Entstuckung in unseren Städten auslösen.