© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/17 / 11. August 2017

„Der Islam verharrt im Urzustand“
Er zählt zu den wichtigsten Literaten der arabischen Welt, wurde mit Ehrungen überhäuft und galt als Anwärter auf den Nobelpreis. Nun hat der Schriftsteller Ali Ahmed Said Esber, der sich „Adonis“ nennt, eine Kritik am Islam veröffentlicht
Katharina Puhst

Adonis, wie passen „Gewalt“ und „Islam“ zusammen?

Adonis: Mohammed ist im Islam der letzte Prophet, das Siegel. Seine Wahrheiten sind absolut. Jemand, der unseren Glauben nicht teilt, gilt als der „Andere“, was eine sekundäre Stufe bezeichnet.

Damit ist doch noch keine Gewalt verübt.

Adonis: Wenn eine perfekte, jedoch verschlossene Welt vorgegeben wird, so ist das auch eine Art von Gewalt – gegenüber der Wahrheit und der Menschheit. Und diese Gewalt verlangt, daß der Mensch dafür lebt, die Religion zu beschützen, obwohl es doch an der Religion läge, den Menschen zu verteidigen.

Aber fordert der Koran nicht gerade zum Frieden auf?

Adonis: Doch, obgleich nur bedingt. Denn der Text versteht sich als wahre Religion nach dem Prinzip: Ich allein bin die Wahrheit und nicht du! Die Toleranz im Islam verbirgt diese gewisse Feindseligkeit. Und der Mensch fordert keine Toleranz, sondern Gleichheit und daher ist die Toleranz letztlich abzulehnen. So gesehen ist allerdings jede monotheistische Anschauung auf Gewalt gegründet. Es ist nicht der Islam allein.

Wie ist Ihre Behauptung zu verstehen, der heutige Islam sei ein historischer?

Adonis: Nach dem Tod des Propheten Mohammed hatte sich das muslimische Volk gespalten in Umayyaden und Hachémi. Es folgten drei Khalifen, die allesamt ermordet wurden: Omar, Othman und Ali. Der Krieg zwischen Umayyaden und Hachémi dauerte fünfzig Jahre, was bedeutet, daß der Islam in Blut entstanden ist – und dies wiederholt sich. Der Islam verharrt im Urzustand. Was sich aktuell zuträgt, ist nur eine leichte Abwandlung dieser Geschichte, denn die Umstände sind nicht mehr dieselben. Die Art, sich unter Moslems gegenseitig umzubringen, entspricht der der Protestanten und Katholiken im Mittelalter. Es gibt keinen Fortschritt. Die Moslems leben in einer Kultur des Tribalismus. Der Islam ist nach wie vor obskur und menschenwidrig, weil es ihm nicht gelungen ist, einen Zivilstaat zu errichten, in dem die Religion von Kultur, Politik und Sozialem getrennt ist. Der kategorische Verweis lautet daher „Religion!“ und dies verkompliziert die Dinge.

Ist die im Namen des Islam verübte Gewalt nicht ein Mißbrauch der Religion?

Adonis: Nein, das würde ich nicht behaupten. Vielmehr ist es eine Frage, wie ein Text gelesen wird. Der Koran wird derzeit leider von Menschen interpretiert, die nicht qualifiziert, ja vielleicht sogar unwissend sind. Das könnte die Welt der Moslems sogar zerstören.

Warum?

Adonis: Weil nach diesen Interpretationen der Islam nur ein Text der Rechtsprechung ist, nach dem Muster: Mach dies und nicht jenes! Und dies vernichtet dessen spirituelle Ebene. Ein Beweis: Es gibt zwar vereinzelt große Denker, Architekten und Mediziner im Islam, aber sie wurden nicht durch den Text hervorgebracht. Die Konsequenz ist eine Religion ohne Kultur, einzig und allein mit dem Gesetz, was zu tun oder zu unterlassen ist. Allerdings: Das Problem der arabischen Welt kann nicht verstanden werden, solange der Westen ausgeklammert wird.

Das müssen Sie erklären.

Adonis: Der Eindruck entsteht, daß die westliche Politik sich für den Araber als Menschen nicht interessiert. Vielmehr verkörpert die arabische Welt für euch nur zweierlei: Reichtum in Hinblick auf Erdöl sowie einen strategischen Faktor. Ein Beweis dafür ist die politische Handlungsweise des Westens. Und ein weiterer – viel schwerwiegenderer – ist die Zerstörung der außergewöhnlichsten historischen Stätten Iraks und Syriens. Es wurden Kunstmonumente der vergangenen tausend Jahre vernichtet. Selbst eine Stadt wie Nemrut Dag? wurde weggefegt. Frauen wurden in Käfige gesteckt und wie Ware verkauft, Menschen auf schreckliche Weise getötet.Von den europäischen Intellektuellen jedoch ist nie eine Petition gegen diesen militanten Islam unterzeichnet worden! Dies führt zu der Annahme, daß die Europäer die Araber abgrundtief hassen. Sie behandeln sie wie Indianer. Man bedient sich ihres Bodens und ihrer Reichtümer, ob aber  Araber dabei sterben, kümmert nicht. Daher muß der Westen wohl auf seiten des Obskurantismus stehen, also derjenigen, die diese Reichtümer in Händen halten. Mit Ländern Geschäfte zu machen ist eine Sache, jedoch deren Politik zu unterstützen eine andere. Die Türkei etwa war ein von Laizismus geprägtes Land. Erdogan hat den Laizismus zerstört und die Europäer unterstützen ihn. Das ist doch unbegreiflich!

Welche Folgen ergeben sich dadurch für den Westen?

Adonis: Derzeit durchlebt der Westen eine Krise auf allen Gebieten: Erziehung, Kultur, Politik, Arbeit und Erwerbsverhalten. Diejenigen, die dieser Dekadenz bislang standhielten, sind die Deutschen. Ihnen fällt eine besondere Rolle zu: eine große Geschichte, wichtige Denkschulen, eine bedeutende Philosophie, Glanz auf allen Ebenen. Der Nationalsozialismus hat dies zunichte gemacht. Trotz aller Probleme ist es Deutschland, das am besten dasteht und am meisten in den Händen hält. Die Europäische Union wäre ohne Deutschland nichts.

Und dies alles wäre gefährdet?

Adonis: Absolut.

Warum verharren unsere Politiker und Medien in dieser Ignoranz?

Adonis: Gegenfrage: Weshalb gibt es keine Ethik mehr? Deutschland war in Hinblick auf die arabischen Länder niemals eine Kolonialmacht. Frankreich, England und Italien hingegen betrieben Kolonialismus von Syrien bis Afrika, ja bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten. Wie verhält es sich nun mit Merkels Politik gegenüber den Migranten? Deutschland hat den Migranten seine Tore geöffnet und über eine Million aufgenommen. Wie aber haben sich Frankreich, England und Italien verhalten? Da liegt doch ein Problem vor! Diese Staaten müßten ihre ethische Verantwortung gegenüber den Menschen wahrnehmen. Das wäre das Mindeste! Die Dinge können nicht wirklich verstanden werden, wenn nicht weit genug über die Politik hinausgegangen wird. Dies aber ist wegen der Zensur unmöglich. Die Öffentlichkeit ist zensiert; wenn nicht durch den Staat, dann durch Zeitungen, Zeitschriften und das Denken der Menschen selbst. Die soziale Zensur ist schlimmer als die politische. In jedem von uns befindet sich derzeit eine Art „Polizist“, der über „akzeptabel“ oder „inakzeptabel“ entscheidet, und genau das ist das Entsetzliche: von innen heraus zensiert zu werden!

Was heißt das?

Adonis: Daß wir alle Schuld tragen. Wir sind für die jetzige Situation verantwortlich. Der Einzelne kann aber dagegen nichts verrichten, denn wir befinden uns in einem Netz, welches sich Gesellschaft nennt. Darüber hinaus wurden Ausdrücke wie Islamophobie erfunden. Ich selbst wäre demnach „islamophob“, was doch irrsinnig ist. Die Wahrheit muß ausgesprochen werden. Wenn die Wahrheit aber angeblich Islamophobie oder Antisemitismus verkörpert, dann darf also nicht mehr gedacht werden!

Ist der Höhepunkt der islamistischen Anschläge und Gewalt bereits erreicht?

Adonis: Der westliche politische Geist hat erstmals sowohl eine alternative als auch geheime Armee geschaffen. Anstatt wie zuvor imperialistische Armeen zu entsenden, hat die westliche Politik bereits Armeen vor Ort. Statt Soldaten schickt sie also Waffen und sogenannte Experten. Ihre Frage müßte Sie also der europäischen Politik stellen, denn sie ist es, die die Gewalt in Händen hält. Weder Sie noch ich haben Bin Laden oder all die Terroristen geschaffen, sondern sie, die westliche Politik.

Aber keine Politik kann ihrem Volk Terroranschläge und Gewalt wünschen.

Adonis: Die westliche Politik ist doch sogar glücklich darüber! Sie gelangt durch Waffen zu Geldsummen von Abermillionen – schwindelerregende Milliardenbeträge! Warum sonst sollte der Westen jene anstacheln, die die Terroristen finanzieren? Und keine Kritik wagt, dieser Politik Einhalt zu gebieten. Und diejenigen, die es versuchen, wie in Frankreich Hubert Védrine oder Dominique de Villepin, werden ausgegrenzt. Ändert der Westen seine politische Blick- sowie Handlungsweise nicht, wird die Zukunft apokalyptisch werden.

Ist Frieden mit dem Islam denkbar?

Adonis: Ich glaube nicht, denn dies entspräche nicht dem Interesse des Westens, der Waffen- und der Kommerzindustrie, des Konsums und auch nicht dem der arabischen Welt oder Israels. In der muslimischen Gesellschaft haben die Menschen dieselben Pflichten, nicht aber dieselben Rechte. Ein Christ hat nicht dieselben Rechte wie ein Moslem. Die Frau nicht dieselben Rechte wie der Mann. Wie könnte sich darauf also eine moderne Gesellschaft aufbauen? Das ist unmöglich! Der Islam müßte daher gleich Europa die Religion vom Staate trennen. Das wäre ein bedeutender Schritt, der die Religion schließlich in eine private Angelegenheit verwandeln würde, die nur noch den Einzelnen, den Gläubigen, beträfe. Ohne diesen Schritt sehe ich keine Lösung, sondern vielmehr eine Steigerung der Probleme des Islams. 

Sie sagen, Ihr Buch helfe, den Islam neu zu verstehen. Wie wäre er denn zu verstehen?

Adonis: Bei Betrachtung der Moslems als Individuen finden sich bedeutende Maler, Dichter, Denker oder Wissenschaftler, die weltweit agieren und in der sogenannten muslimischen Gesellschaft geboren sind. Nichtsdestotrotz stehen ihnen die Institutionen gegenüber – Schule, Universität, Familie und alle politischen Gruppen, die unglaublich antimodern und menschenwidrig sind. Das gilt als Beweis dafür, daß das Problem nicht beim Individuum, sprich dem Einzelnen liegt, der allen anderen auf der Welt gleich ist, sondern an den auf der Religion gegründeten Institutionen. Werden diese Institutionen vom Islam nicht getrennt, bleibt er unverändert. Das wiederum ist auch Teil der Verantwortung des Westens: Statt der Gesellschaft zu helfen, diese Trennung vorzunehmen, macht er das Gegenteil.

Der Westen versucht doch zu helfen.

Adonis: Aber er hilft den Institutionen und Regimes, die es abzuschaffen gilt!

Versuchen nicht auch unsere Medien, über die Mißstände im Islam aufzuklären?

Adonis: Was? Der Westen hat sich bisher noch nie mit einer progressiven Institution für die Freiheit der Frauen eingesetzt. Alles, was man von ihm zu hören bekommt, ist Gequake. Frankreich hatte zwei Länder, von denen es geliebt wurde: Libanon und Syrien. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre aber hat Frankreich diese beiden Länder verloren, die inzwischen anglophon sind. Dies alles zeigt, daß der Westen nichts für die wahre Demokratisierung, die wahre Freiheit dieser Gebiete unternimmt. Damit sind wir beim eigentlichen Problem: Man kann nicht sagen, der Islam sei gewalttätig und dabei die Gewalt der anderen Religionen vergessen, denn sie sind Teil davon und leben nebeneinander her. Politisch betrachtet, gibt es eine Trennung zwischen Orient und Westen, nicht jedoch auf intellektueller und wirklicher Ebene.

Wie sollten wir in Europa zugewanderten Moslems begegnen?

Adonis: Als Regierung würde ich den Moslems verkünden, daß wir im Westen nicht gegen das Individuum sind: „Als Individuum seid ihr herzlich willkommen. Ihr seid wie wir und genießt die gleichen Rechte wie wir. Aber das Gesetz in Frankreich und Deutschland ist ein Zivilgesetz, ein laizistisches Recht und steht unter dem Symbol des Landes. Ohne dieses Symbol gäbe es unser Land gar nicht. Daher müßt ihr den Laizismus respektieren! Die Moschee kann kein Ort für die Unterrichtung der islamischen Kultur sein, handelt es sich dabei doch ausschließlich um eine Gebetsstätte. Aus diesem Grund lehnen wir es ab, daß die Moschee zu einem Ort politischer Treffen wird. Die Schule hingegen ist republikanisch und laizistisch und muß von euch respektiert werden!“

Das wird sich in Europa schwerlich durchsetzen lassen.

Adonis: Das jedoch liegt an der Politik. Zudem darf nicht vergessen werden, daß es in Europa laizistische Moslems gibt und diese ermutigt werden sollten, indem sich der Westen auf ihre Seite stellt. Das Gegenteil jedoch geschieht, denn der Westen steht auf seiten jener, die mit Saudi-Arabien und dem Geld verbunden sind. Die Politik des Westens ist ungeheuerlich! Und letztlich fehlt den europäischen Intellektuellen Courage. Es fehlen die Camus, die Sartres. Dabei meine ich nicht deren Qualität, sondern deren Gedankenfreiheit und Mut zu sagen, was sie denken. Zumal es von ihnen noch nie eine Petition gegen den IS gab.

Was wäre der Nutzen?

Adonis: Es wäre ein Zeugnis der Geschichte. Ein Zeugnis dafür, daß wir im Westen gegen die Zerstörung des Menschen sind. Es geht doch um nichts weniger als die Menschheit!  






Ali Ahmad Said Esber, für die Zeit ist er der „bedeutendste Dichter der arabischen Welt“. Der Schriftsteller, der 1930 in Syrien geboren wurde, heute in Paris lebt und sich „Adonis“ nennt, wurde mit Literaturpreisen in Frankreich, Deutschland, Italien, der Türkei und im Libanon ausgezeichnet und mehrfach als Literaturnobelpreiskandidat gehandelt. Etliche seiner Bücher sind ins Deutsche übersetzt, zuletzt „Verwandlungen eines Liebenden“ (2011), „Wortgesang“ (2012) und „Der Wald der Liebe in uns“ (2013). Nun ist sein Gesprächsband „Gewalt und Islam“ erschienen. 

Foto: Autor „Adonis“: „Von den europäischen Intellektuellen ist noch nie eine Petition gegen den militanten Islam unterzeichnet worden ... Ob Araber sterben, das kümmert euch nicht.“

 

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