© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Leben auf 6,4 Quadratmetern
Mikro-Apartments: Architekturexperimente zu minimalem Wohnraum zeigen, was die Mittelschicht erwartet
Claus-M. Wolfschlag

Minimalimus ist hip, nicht nur in jungen Designer-Kreisen. Beworben wird er auf Webseiten wie mrminimalist.com oder utopia.de. Einerseits ist die dort propagierte Reduktion des persönlichen materiellen Besitzes eine Reaktion auf den hiesigen Überfluß an Waren. Der Anhäufung mit dem Schrott der Konsumgesellschaft werden der bewußte Verzicht und die Konzentration auf das Wesentliche entgegengesetzt. Andererseits erledigt Minimalismus aber auch das Geschäft der Globalisierung. Er kann dazu beitragen, daß die Mittelschicht, deren Wohlstand ohnehin bereits nach oben und unten umverteilt wird, an ein Leben in der Verarmung gewöhnt wird.

Mindestfläche wie im Strafvollzug

Seit geraumer Zeit beschäftigen sich Architekten deshalb mit der Gestaltung von Containersiedlungen und Mikro­apartments. Hierbei gehen, wie so oft in der Welt der Globalisierung, Schrumpfung und Wachstum eine enge Verbindung ein. Wer es als Naturgesetz sieht, daß Bevölkerungswachstum, Zuwanderung, steigende Mieten und Bauboom letztlich grenzenlos voranschreiten, ohne daß regulierend eingegriffen werden kann oder darf, muß die Schrumpfung auf der anderen Seite, bei der Wohnfläche, planen.

Einer der Planer ist Van Bo Le-Mentzel. Dieser wies unlängst darauf hin, daß ein Europäer durchschnittlich fast 50 Quadratmeter Wohnraum nutze. Diese Feststellung beinhaltete den Vorwurf, daß die Europäer im Weltmaßstab in unangemessenem Wohlstand leben. Denn für die gesamte Weltbevölkerung gebe es angeblich gar nicht so viel Platz, um einen derartigen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, so der 1977 in Laos geborene Architekt. Deshalb erforscht er nun mit Gleichgesinnten auf dem Bauhaus-Campus in Berlin Wohnformen der Zukunft. 

Da auch Van Bo Le-Mentzel offenbar davon ausgeht, daß die Bevölkerung der Städte immer weiter wachsen wird, hat er ein Konzept des ultimativ geschrumpften Apartments geschaffen. Das sogenannte „100 Euro-Haus“ ist nämlich nur 6,4 Quadratmeter groß. 

In diesem Mikro-Apartment sollen eine Küchenzeile, ein Bett, ein Schreibtisch, ein Sofa, eine Toilette und eine Dusche untergebracht werden. Mit Hilfe einer Deckenhöhe von 3,60 Meter kann man über eine Holzleiter in den Schlafbereich kriechen, der zugleich als Arbeitsplatz für Homeoffice-Tätige dienen kann. Die Füße kann man durch eine zur Küche führende Aussparung stecken. Zudem ermöglich eine ausklappbare Couch Schlafplätze für Gäste.

Ist das noch soziales Engagement oder nur Selbstinszenierung? Die Ein-Zimmer-Apartments sind jedenfalls nicht zur Verbesserung der Wohnsituation in Entwicklungsländern gedacht, sondern sollen die Zukunft der westlichen Städte vorwegnehmen. In vielen Entwicklungsländern sind noch großfamiliäre Strukturen vorherrschend, für die solche Mikroapartments kaum geeignet sind. Diese Wohnform richtet sich stattdessen an Singles, an die ungebundenen und ausgebeuteten Arbeitsbienen in den westlichen Städten der Zukunft, deren Leben von Niedriglohn und sozialer Vereinsamung geprägt ist. Ein geplanter Gemeinschaftsraum in der Minihaus-Siedlung als soziales I-Tüpfelchen macht die Sache nicht besser.

Daran wird der letztlich menschenverachtende Charakter solcher Architekturexperimente deutlich. 6,4 Quadratmeter, das entspricht der Zimmergröße, die das Bundesverfassungsgericht 2011 als Mindestfläche für die menschenwürdige Unterbringung von Strafgefangenen festgelegt hat. Der Architekt geht also von einem Szenario aus, daß viele Menschen der westlichen Welt in Zukunft auf dem Niveau von Strafgefangenen leben werden müssen. 

Unheilige Allianz mit der Wachstumsideologie

Das Niveau ist sogar noch unter dem der heutigen Häftlinge, denn in einer Gefängniszelle fehlt die Kochnische. Die minimalistische Romantik und der Überdruß mancher Jung-Kreativer an der Konsumwelt geht somit eine unheilige Allianz mit der Wachstumsideologie ein. Statt sich Gedanken zu machen, wie man das menschliche Bevölkerungswachstum im globalen Süden drastisch einschränken oder gar umkehren kann, bleiben die Ideen systemkonform. Es geht nur um die Verwaltung der Alternativlosigkeit. Hier noch ein wenig den Gürtel enger schnallen, dort noch ein bißchen Sperrholzmöbel, durch eine Prise Minimalismus-Design angeblich künstlerisch geadelt.