© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Jegliche Distanz verloren
Journalisten als Stimmungsmacher: Studie belegt einseitige und unkritische Berichterstattung in der Asylkrise
Paul Leonhard

Auf den Medienwissenschaftler Michael Haller sind die deutschen „Leitmedien“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und Süddeutsche Zeitung zur Zeit gar nicht gut zu sprechen. Bescheinigt ihnen Haller doch in seiner am Montag vorgestellten wissenschaftlichen Studie „Die ‘Flüchtlingskrise’ in den Medien.Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information“ gegen journalistische Grundregeln verstoßen zu haben. Untersucht hat Haller, akademischer Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung, die Berichterstattung über die Asylkrise zwischen Februar 2015 und März 2016. 

Sorgen der Bevölkerung kaum aufgenommen

Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Alleingang veranlaßte Öffnung der Grenze werde rückblickend „eine weitere prägende Weichenstellung“ in der deutschen Geschichte sein, wie die Westintegration, die Ostpolitik oder die Wiedervereinigung, schreibt Jupp Legrand, Geschäftsführer der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung in seinem Vorwort zur Studie. Merkel habe mit ihrem Alleingang die europäische Verständigung und den Integrationsprozeß einer „schweren Belastungsprobe“ ausgesetzt. Und unter den viele Journalisten willfährige Helfer gefunden, die jegliche „kritische Distanz verloren“ und „zu Stimmungsmachern wurden“, wie die NZZ schreibt.

Zwei Fragen hat Haller in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt: Stimmt es, daß die Journalisten der Informationsmedien über die Flüchtlingsthematik des Jahres 2015 parteiübergreifend, vielleicht auch nur einseitig berichtet haben? Trifft es zu, daß sich die sogenannten Leitmedien mit der politischen und wirtschaftlichen Elite verbündet und Andersdenkende, auch die Unzufriedenen und Oppositionellen, mißachtet haben? Der Fokus liegt dabei auf dem Zeitraum zwischen den ersten Berichten von im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen und den zuerst verschwiegenen brutalen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln.

Die Medienwissenschaftler haben für ihre Studie über 30.000 Artikel aus FAZ, Süddeutscher, Welt, Bild, mehr als 80 verschiedenen Lokal- und Regionalzeitungen sowie den reichweitestarken Onlinemedien Focus Online, tagesschau.de und Spiegel Online erfaßt, und etwa 1.700 davon analytisch ausgewertet. Das Ergebnis ist ernüchternd, aber nicht überraschend: Bis zum Herbst 2015 habe „kaum ein Kommentar die Sorgen, Ängste und auch Widerstände eines wachsenden Teils der Bevölkerung aufgenommen“, heißt es in der 176 Seiten umfassenden Studie. Und wenn doch, „dann in belehrendem oder (gegenüber ostdeutschen Regionen) auch verächtlichem Ton“. 

Die Alltagswelt mit ihren Akteuren sei nicht zur Sprache gekommen, außer im Zusammenhang mit rechtsradikalen Gewalttaten. „Der demokratietheoretisch geforderte, verständnisorientierte Diskurs war im redaktionellen Teil der drei Leitmedien im Verlauf des Jahres 2015 für uns nicht auffindbar“, schreibt Haller. Der journalistische Grundsatz, aus neutraler Sicht sachlich zu berichten, sei in rund der Hälfte der Berichterstattungen nicht durchgehalten worden. 

Die Journalisten würden sich zu sehr an den politischen Eliten orientieren und ihre Leser bevormunden. „Manche Journalisten verstehen sich inzwischen als Politikberater und betreiben einen Journalismus, der sich an ein paar Eingeweihte richtet, denen sie Codewörter zurufen“, wird in der Studie Mathias Döpfner, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, zitiert. Der eigentliche Empfänger sei nicht mehr der normale, intelligente, aufgeschlossene, aber nur bedingt informierte Leser, sondern die Kollegen, Politiker oder Wirtschaftsführer.