© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Ferien vom Ich, Zeit füreinander
Wenn Eltern mit Kindern in den Urlaub fahren: Gelegenheit für Gespräche, Austausch, gemeinsames Erleben und sich als Familie wiederzufinden
Jürgen Liminski

Manche Väter haben eine Eigenschaft, die Kinder und insbesondere Jugendliche nicht mögen: Sie belehren gern. Manche begnügen sich mit den Weltläuften, andere teilen ihr Wissen über Jogi Löws taktische Fehler mit oder, das ist eine Art Höchststrafe, über das Schulfach, in dem man gerade schwächelt. Ihre Antwortkompetenz scheint unendlich. Es gibt aber auch Väter, die alles wissen und nichts mitteilen. Weil sie spät und erschöpft nach Hause kommen. Weil Sorgen sie bedrücken, was sie nicht äußern wollen. Weil sie bei allem Wissen über die großen öffentlichen Haushalte ratlos über dem eigenen zu kleinen Privatbudget brüten. Und dann gibt es die Väter und Mütter, die sich auf den Urlaub freuen, weil sie in dieser Zeit hoffen, Probleme an- und auszusprechen und sich damit emotional erholen zu können.

Urlaub als Rückzugsraum von der Welt der Karriere

Die „Welt der Sorge“, wie Norbert Bolz den Privathaushalt nennt, ist immer noch weitgehend die Welt der Mütter. Auch sie brauchen diese Zeit der Kommunikation und der Erholung. Natürlich bleibt ein Teil des Stresses auch im Urlaub erhalten, wenn Kinder dabei sind. Irgend jemand muß sich um die Wäsche, das Essen, das Wohlbefinden kümmern. Aber im Urlaub ist es leichter, einen Teil dieser Arbeit zu delegieren. Und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, auf die Kernkompetenz der Familie. Das ist die Pflege der emotionalen Beziehungen, überhaupt das Ordnungsgefüge der Beziehungen.

Der Staat kann vieles übernehmen, lieben kann er nicht. Und auch wenn die Familie im Lauf der letzten Jahrhunderte, also seit der Industrialisierung und der entstehenden Sozialgesetzgebung mehr und mehr die Aufgaben der wirtschaftlichen Daseinsvorsorge bei Krankheit, Invalidität, Alter usw. verloren oder an den Staat abgegeben hat, die Sozialisation und die Pflege der innerfamiliären Intim- und Gefühlsbeziehungen ist ihr geblieben. Das konnte und kann sie nicht abgeben. Die Revision der persönlichen Beziehungen ist ein, vielleicht das heimliche Ziel von Urlaub und Ferien.

Diese Kernkompetenz ist gesellschaftlich relevant, ja systemrelevant. Denn das „Management“ der innerfamiliären Beziehungswelt mündet in die Bildung von Humanvermögen, von Daseinskompetenzen wie das Lernenkönnen, das Miteinander-umgehen-Können, Ausdauer haben, nach Lösungen suchen statt zu jammern, eigene und fremde Gefühle erkennen und einordnen, Vertrauen schenken, ohne naiv zu sein. Sie mündet in die soziale Kompetenz und die Fähigkeit, emotionale Intelligenz zu steuern. Das ist mehr als Wissen. Der amerikanische Nobelpreisträger Gary Becker, ein liberaler Ökonom, sagte es so: „Das grundlegende Humanvermögen wird in der Familie erzeugt. Die Schule kann die Familie nicht ersetzen.“

In der Tat: Erziehung zu Gemeinsinn, zu Toleranz, Ehrlichkeit, Treue, Hilfsbereitschaft, Verantwortungsgefühl usw. sind die berühmten Voraussetzungen, wovon Gesellschaft, Staat und Wirtschaft leben. Es ist bezeichnend, daß in der wissenschaftlichen Literatur „die Erzeugung solidarischen Verhaltens“ als ein Grund für den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie genannt wird. Es sei eine Leistung, die in der Familie „in einer auf andere Weise nicht erreichbaren Effektivität und Qualität“ erbracht werde (Heinz Lampert). Dieses Management kostet Zeit, es kostet Mühe, nicht selten auch Nerven. Da die emotionalen Bedürfnisse von Kindern nicht planbar sind, sondern schlicht Präsenz erfordern, sind Konzepte wie „quality time“ zwar arbeitgeberfreundlich und „eine Art, den Effizienzkult vom Büro auf das Zuhause zu übertragen“, wie die Soziologin Arlie Russell Hochschild nüchtern beschreibt; sie sind aber auch realitätsfern und familienfremd. Die Revision der „Welt der Sorge“ ist keine Frage der Effizienz, sondern der Liebe.

Beziehung braucht Zeit. Sie braucht die Ressource Erholung. Beides findet sie im Urlaub. Es ist der Rückzugsraum von der Welt der Karriere, der Schichtdienste und Produktionszwänge. Es ist die Zeit des Gesprächs, der Klärung von Mißverständnissen, des Austauschs der Gedanken – beim Wandern, Angeln, Segeln, Spielen, Essen oder einfach nur Betrachten der Natur. Es ist die Zeit, in der die Freundschaft des Lebens im Ehepaar neu entdeckt, erfrischt wird. Es ist die Zeit, in der in den Kindern Potentiale sichtbar und Weichen gestellt werden. Vielleicht wird aus dem ständigen Monopoly-Gewinner mal ein findiger Manager oder aus dem leidenschaftlichen Strategie-Spieler mal ein Politiker. Oder aus dem Kind, das gerne zuhört und wenig, aber Treffendes sagt, ein Priester, eine Psychotherapeutin oder eine Lehrkraft. Oder aus dem ausdauernden Bastler mal ein guter Handwerker oder Ingenieur und aus dem bis an die Grenze gehenden Schwimmer, Läufer und Tennisspieler mal ein engagierter Vater.

Sie alle werden sich an die gemeinsame Zeit erinnern. Emotionen prägen. Dabei geht es nicht nur ums „Knuddeln“. Den Gefühlshaushalt einer Familie im Lot zu halten ist manchmal harte Arbeit, auch im Urlaub. Der familiale Alltag heute erfordert, auch und gerade im Urlaub, verstärkt Aushandlungsprozesse, und nach wie vor sind es die Frauen, die als „Managerinnen des Alltags“ den Löwenanteil der Haushalts- und Betreuungsarbeit leisten, wie sich wissenschaftlich leicht nachweisen läßt. Etliche Studien weisen darauf hin, daß es vorrangig die Mütter sind, die als „love experts“ (Serry/Crowley) und „Wohlbefindensmanagerinnen“ (Laux/Schütz) den Gefühlshaushalt der anderen Familienmitglieder ordnen.

„Allerdings erfahren emotionale Leistungen wie Fürsorgearbeit im allgemeinen eine geringe soziale Wertschätzung und Anerkennung“, schreiben die Familienforscher Andreas Lange und Peggy Szymenderski. Mit Blick auf die individuelle Alltagsgestaltung zeige sich, daß der Arbeitstag der Frauen von „einem hektischen Hin und Her statt einem souveränen Wechsel der Zeiten gekennzeichnet ist […]. Frauen verlieren die ‘Zeitbalance’, da sie Dinge gleichzeitig organisieren und zwischendurch erledigen müssen. Das Gefühl von Zeitnot oder Zeitstreß ist ein Phänomen, das immer häufiger von erwerbstätigen Müttern beklagt wird“. Sie wollen mehr Zeit für die Kernkompetenz. Der Wunsch nach Teilzeit ist bei ihnen besonders ausgeprägt. Mittlerweile ist die Familienform, wonach der Vater voll und die Mutter teilzeitig erwerbstätig sind, mit rund 40 Prozent die stärkste Gruppe, gefolgt vom Modell, wonach der Vater allein außer Haus das gemeinsame Geld verdient, mit knapp dreißig Prozent aller Familienhaushalte. In diesen beiden Modellen leben mit knapp elf Millionen die meisten der dreizehn Millionen Kinder.

Väter sind gefragt, dazusein und zuzuhören

Emotionsverarbeitung und der Aufbau liebevoller Bindungen und Beziehungen braucht Geduld, mithin Zeit. Beim Wort Gefühlshaushalt oder Emotionen rümpfen manche Politiker und Journalisten verächtlich die Nase. Aber die Hirn- und Bindungsforschung lehrt uns, daß die Emotionen nach einem Wort des Entwicklungspsychologen Stanley Greenspan, die „Architekten des Gehirns“ sind, daß sie das Wachstum des Gehirns beflügeln, daß emotionale Stabilität die Bildung neuronaler Verschaltungen fördert und so als Quelle der Innovationskraft wirkt.

Mit anderen Worten: Zuwendung, Zärtlichkeit, Zeit – die drei großen Z von Pestalozzi – schaffen die Voraussetzung, daß das Kind überhaupt lernen kann, daß es teamfähig ist, also soziale Kompetenz hat, daß es sich konzentrieren und mit Ausdauer beschäftigen, also arbeiten kann, daß es innovativ ist und so später als Ingenieur den deutschen Export mit anschieben kann, daß es seine Gefühle einordnen und so mit Vernunft solidarisch sein kann, daß es, kurz gesagt, über entsprechendes Humanvermögen verfügt, um Staat und Gesellschaft menschlich mitzugestalten. Genau davon, von der „Zukunft des Humanvermögens“, sprach übrigens der fünfte Familienbericht. Offenbar war man 1994 weiter als heute. Denn die ideologiegetriebene Familienpolitik der Großen Koalition ist de facto nur ein Teil der Arbeitsmarktpolitik.

Das klingt weit hergeholt, so wie der Schlag des Schmetterlings, der bei der Chaostheorie ein Beben am anderen Ende der Welt auslöst. Aber bei Emotionen und Beziehungen kann man schon sagen: Sie beeinflussen das Welt-Geschehen, zumindest in der Welt der Sorge. Ordnung schaffen im Chaos der Gefühle ist ein Stück Selbstbestimmung. „Lebensgefühl,“ meinte Jean-Jacques Rousseau, „gewinnen wir ja erst durch die Wahrnehmung, was andere von uns denken.“ Die Einordnung dieser Wahrnehmung und Gefühle ist persönlichkeitsbildend. Beziehungen sind es, die Identität stiften. Das kann im Urlaub ein Abenteuer sein.

Der Urlaub fängt im Stau an. Das ist schon das erste gemeinsame Erlebnis. Es ist natürlich schön, wenn eine Familie gemeinsam in den Alpen wandern gehen oder in der Toscana europäisches Kulturerbe besichtigen kann. Aber Familien erleben Urlaub eigentlich anders. Statt großer Adrenalin-Sprünge ist es eher die Einordnung von Emotionen, die Verstetigung von Beziehung, der Alltag der Liebe. Und vielleicht finden die Väter im Urlaub auch die Zeit, einfach nur zuzuhören. Ohne an Politik oder das Büro zu denken.

Nebenbei bemerkt: Das Zuhören-Können war für die Klassiker eine Tugend, die Solertia. Sie ordneten sie der ersten Kardinaltugend, der Klugheit, zu. Wer die Solertia im Urlaub beherzigt, kommt mit Schätzen der Erkenntnis nach Hause zurück, egal wo er war.