© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Erdogan die Stirn bieten
Deutsch-türkisches Verhältnis: Diktatoren verstehen nur die Sprache der Stärke
Jürgen Liminski

Es handelt sich nicht nur um eine diplomatische Verstimmung. In der Türkei schließt sich ein Fenster – es ist das Fenster der Demokratie. Der hoffnungsvolle Weg, den der Staatsgründer Kemal Atatürk mit der Trennung von Religion und Staat vor fast einem Jahrhundert betreten hatte, wurde in wenigen Jahren unter Recep Tayyip Erdogan zur Sackgasse. Seit dem mißglückten Putsch vor einem Jahr läuft das Rollback ungebremst.

Beispiele: Erdogan selbst scheut sich nicht mehr, die Rückkehr in eine islamistische Republik mit Todesstrafe und Ein-Parteienherrschaft zu proklamieren. Bei öffentlichen Auftritten zeigt er unverhohlen das Zeichen der Muslimbrüder, die Rabaa, die Hand mit dem eingeknickten Daumen. Erdogans Partei AKP hat es offiziell als eigenes Zeichen anerkannt. In öffentlichen Schulen wird wieder eine alte islamische Hymne in Arabisch gesungen, Atatürk langsam aus Schulen und Universitäten verdrängt, die Stundenzahl im Fach „Religiöse Kultur und Erziehungswerte“ wurde deutlich erhöht. In den Schulplänen für das laufende Jahr 2017–2018 wird auch nicht mehr Evolution gelehrt, sondern das Konzept des Dschihad, des Heiligen Krieges. Die Evolutionslehre sei nicht relevant, meint Erziehungsminister Ismet Y?lmaz und liefert die Begründung gleich mit: „Zum Unterricht für islamisches Recht gehört der Dschihad. Seine wirkliche Bedeutung heißt: Seine Nation lieben“.

Das hat nichts mit Patriotismus zu tun. Es geht um die islamische Nation, und die greift gemäß islamischem Recht weltweit aus. Anders ergibt die Y?lmaz-Interpretation des Dschihad keinen Sinn. Aber das sind nur Meilensteine auf dem Weg der Türkei Erdogans. Seit Jahren nimmt der Extremismus zu. Schon 2007 votierten zwei Drittel der Türken für die extremen Parteien, die Islamisten holten allein 48,9 Prozent. 1987 hatten sie mit sieben Prozent angefangen, seit 1993 werden alle größeren Städte von einem islamistischen Bürgermeister regiert. Mit Erdogan hat die Türkei seit fast anderthalb Jahrzehnten einen islamistischen Regierungschef. Bekannt ist Erdogans Spruch: „Die Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Gläubigen unsere Soldaten.“ Man täusche sich nicht: Ziel ist ein Sultanat mit Scharia.

Das wirkt sich auch auf die Außenpolitik aus. Jetzt hat eine regierungsnahe Zeitung sogar Standorte amerikanischer und französischer Truppen im Kriegsgebiet Syrien veröffentlicht, einschließlich der Truppenstärke und anderer Details – ein Tabubruch in der Nato, der an Verrat grenzt. Washington ist verstimmt, Paris reibt sich die Augen, Berlin schweigt. Von den fünf Säulen kemalistischer Außenpolitik (Vorfahrt für das Nationalinteresse, keine imperialen Gelüste, Abwendung vom Orient, Hinwendung zum Westen, neutrales Verhalten bei regionalen oder globalen Konflikten) ist nichts mehr übrig.

Bei so vielen deutlichen Zeichen muß man sich fragen, worauf die EU-Kommission in Brüssel noch wartet, um die Verhandlungen für einen Beitritt der Türkei abzubrechen und dem größenwahnsinnigen Diktator die Stirn zu bieten. Natürlich, Erdogan soll selbst die Gespräche abbrechen, damit die Schuld klar ist. Und klar, die Türkei ist ein Nato-Staat. Und selbstverständlich dräut die Flüchtlingsfrage im Hintergrund. Aber all das ist auch Material, um die Europäer und den Westen zu erpressen. Nur: Die Balkanroute ist dicht, als Verbündeter geriert sich der Diktator schon lange nicht mehr, siehe Incirlic und Konya.

Diktatoren verstehen nur die Sprache der Stärke. Das muß nicht gleich militärische Stärke sein, über die die EU ohnehin nicht verfügt. Eine weitere wirtschaftliche Talfahrt würde Erdogan empfindlicher treffen als das hilflose Stammeln „peace in our time“ à la Daladier und Chamberlain. 

Dabei gibt es Optionen, auch im bilateralen Bereich. Man denke an die vielen deutsch-türkischen Joint-Ventures, die von deutschverbürgten Krediten leben. Man denke an die kostenlose Krankenversicherung von Angehörigen in der Türkei, inklusive Eltern, der in Deutschland legal lebenden und arbeitenden Türken. Diese haben, anders als deutsche Arbeitnehmer, die ihre Eltern nicht mitversichern können, Anspruch auf Leistungen aus der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung. Und das seit 1964. Dieses Privileg für türkische Arbeitnehmer könnte man abschaffen. So ließen sich bei der Durchforstung der deutsch-türkischen Beziehungen noch weitere Optionen finden, um Erdogan die Grenzen seines Handelns aufzuzeigen.

Für wirtschaftliche Argumente ist Erdogan durchaus empfänglich. Zum Beispiel der deutsch-türkische Handel: Das Handelsvolumen liegt bei 37 Milliarden Euro. Deutschland ist für die Türkei der wichtigste Handelspartner und nach den Niederlanden der zweitgrößte ausländische Investor. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres aber brachen die deutschen Ausfuhren in die Türkei um 9,5 Prozent auf 8,6 Milliarden Euro ein, obwohl die deutschen Exporte weltweit deutlich anstiegen. Bei dieser Dynamik wird das Volumen Ende 2017 bei 25 Milliarden liegen. Dasselbe gilt für den Tourismus. Die Deutschen wollen nicht mehr in die Türkei. Das liegt mehr an Erdogan, weniger an der Sicherheitslage. Nun hat der Sultan die willkürliche Liste der 700 terrorverdächtigen deutschen Firmen zurückgezogen. Weitere Einbrüche kann er sich nicht leisten. Auch Diktaturen müssen leben. Wer der Türkei helfen will, muß dem Despoten die Stirn bieten. Das ist nicht nur eine Frage der Realpolitik, sondern auch der Selbstachtung.