© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/17 / 21. Juli 2017

Stauffenbergs Reichsverweser
Ludwig Beck und der 20. Juli 1944: Der strategische Denker und sein Widerstand gegen Hitlers Kriegspolitik
Klaus Hornung

Die Historiker des deutschen Widerstandes gegen Hitler haben ein klares Bild von General Ludwig Beck gezeichnet. Peter Hoffmann nennt ihn das Oberhaupt der Verschwörung zwischen 1938 und 1944, Hans Rothfels rühmt seine intellektuelle Klarheit und die Festigkeit seines Charakters, Friedrich Meinecke nannte ihn „einen echten Erben Scharnhorsts“.

Beck wurde 1880 in Biebrich am Rhein in einer Familie hessischer Unternehmer und Offiziere geboren. Nach dem humanistischen Abitur entschied er sich für den Lebensberuf des Soldaten. Die Kriegsakademie, vier Jahre des Ersten Weltkrieges und ab 1919 die Reichswehr wurden zu Stationen seines Aufstiegs. Ende 1932 wurde er als Generalleutnant Chef des Truppenamtes, wie der Generalstab durch Vertrag von Versailles genannt werden mußte. Das Streben, diesen Vertrag zu beseitigen, teilte Beck mit der Mehrheit der Deutschen. 

Hitlers Regierungsantritt erschien auch ihm als „der erste Lichtblick seit 1918“, 1935 folgte die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und auch des Generalstabes, dessen Chef General Beck nun wurde. Doch Schritt für Schritt offenbarte sich Hitler als totalitärer Diktator und Ideologe, zuerst durch die blutige Niederschlagung des vermeintlichen „Putsches“ seiner SA, bei der auch die beiden Reichswehrgenerale Kurt von Schleicher, Hitlers Vorgänger als Reichskanzler, und Ferdinand von Bredow unter Vorwurf des Landesverrats ermordet wurden. Diese Bartholomäusnacht im Juni 1934 und der persönlichen Eid auf Hitler als „Führer und Kanzler des deutschen Reiches und Volkes“ und Nachfolger Hindenburgs am 2. August 1934 wurden Beck zu ersten Anstößen der Entfremdung zum neuen Regime. Die überhastete Truppenvermehrung erschien ihm bald eher als „Mobilmachung“ auf Kosten der Qualität der Armee denn als verantwortungsvolle Entscheidung.

Am 5. November 1937 offenbarte Hitler den militärischen Spitzen seine Absicht, die deutsche „Raumnot“ durch eine baldige weiträumige Expansion nach Osten mit militärischen Mitteln sprengen zu wollen. General Beck nahm als einer der ersten dagegen Stellung. Die gewaltsame Veränderung der seit tausend Jahren festliegenden Grenzen in Europa, so der Generalstabschef, mußte zu unabsehbaren Konflikten und zum Eingreifen der Westmächte führen. Es war der Beginn seines Kampfes gegen Hitlers Expansionspläne, der sich nun über fast ein Jahr hin erstrecken und über seine militärischen und politischen Argumente hinaus zu seinem stetig wachsenden Widerstand gegen den leichtfertigen Imperialismus des „Führers“ führen sollte, zunächst in Becks amtlichen Funktion und dann während des Krieges als pensionierter General und als Patriot mit überlegener militärischer und strategischer Sachkenntnis und dem Mut dessen, der um das Risiko und die Lebensgefahr wußte.

Am 5. Februar 1938 entließ Hitler die beiden Spitzengenerale, Reichskriegsminister Feldmarschall Werner von Blomberg und General Werner von Fritsch, den Oberbefehlshaber des Heeres, die auch schon im November Widerspruch gegen die Kriegspläne angemeldet hatten. Es wurde deutlich: Hitler brauchte für seinen Plan willfährige Generale. Im März gelang ihm der „Anschluß“ Österreichs an das Reich, schon im Mai verkündete er seinen „unabänderlichen Entschluß“, die Tschechoslowakei bei nächster Gelegenheit „niederzuwerfen“. In seiner ersten Reaktion sprach sich Beck gegen den Plan aus, weil er die militärische Kraft der Tschechoslowakei unterschätze und das Eingreifen der Westmächte riskierte. 

Früher Widerspruch gegen die Kriegspläne Hitlers

Es wurde deutlich, daß Beck die langfristigen Folgen der prestigesüchtigen Absichten des „Führers“ zu kalkulieren wußte. In weiteren „Stellungnahmen zur gegenwärtigen militärpolitischen Lage“ für den neuen Heeresoberbefehlshaber General von Brauschitsch zur Verwendung bei Hitler wurde Becks Sprache, der seine strategische und politische Verantwortung ernst nahm, stetig deutlicher. In seiner Denkschrift Mitte Juli 1938 schrieb er: „Es stehen hier Entscheidungen über den Bestand der Nation auf dem Spiel. Die Geschichte wird diese (militärischen) Führer mit einer Blutschuld belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln. Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbietet.“  

In „Anmerkungen“ dazu, die Brauchitsch nicht weitergab, sprach Beck von einem „Generalsstreik“ der hohen Militärbefehlshaber, faktisch einer Befehlsverweigerung gegen Hitlers Kriegspolitik. Der Generalstabschef sprach hier nun deutlich bereits von einer notwendigen „offenen Auseinandersetzung“ des Heeres mit der SS und der Gestapo als den Machtzentren des Regimes, von der „Bonzokratie“, die sich ausgebreitet hatte und von den „Tscheka-Methoden“ der Nationalsozialisten, die durch die Rückkehr zum Rechtsstaat und freier Meinungsäußerung, „preußischer Sauberkeit und Einfachheit“ überwunden werden sollten, vom Wohnungsbau für die Volksgenossen statt Palästen für die Bonzen. 

Mitte August wurde bei einer Besprechung der militärischen Befehlshaber mit Hitler deutlich, daß deren Mehrheit zur Befehlsverweigerung gegen den Kriegskurs des Diktators nicht bereit war, obwohl mancherlei Skepsis gegen seine Neigung zu Abenteuer und Risiko nicht zu verkennen war. Die militärischen Spitzen standen nun auch zunehmend unter dem Eindruck, daß sich im jüngeren Offizierskorps der rasch aufwachsenden Wehrpflichtarmee die Meinung verbreitete, die alten Generale hätten zuwenig Kenntnis von der Dynamik der „neuen Zeit“ und ihren militärtechnischen Neuerungen, etwa bei der Panzerwaffe und der Luftwaffe mit den entsprechenden strategischen Aussichten. Inzwischen verfügte Hitler auch über genügend Informationen über General Becks Widerstand gegen seinen Kurs, so daß er nun seine Ablösung forderte. Entsprechend den militärischen Regeln reichte Beck am 18. August sein Rücktrittsgesuch ein, dem der Diktator binnen weniger Tage entsprach, freilich ohne öffentliche Bekanntgabe, um außen- wie innenpolitisches Aufsehen zu vermeiden.

Becks Urteile in seinen Denkschriften im Sommer 1938 und ihre für das Regime oft wenig schmeichelhafte Begründung seines Widerstandes gegen den Kriegskurs entsprachen freilich den Urteilen und der Stimmungslage, die in weiten Teilen nicht nur militärischer, sondern auch diplomatischer Kreise in diesen Monaten der Tschechei- und Sudetenkrise geäußert wurden. Das Ergebnis der Münchener Konferenz der vier europäischen Großmächte am 29. September 1938 verhinderte den Ausbruch des unmittelbar bevorstehenden neuen militärischen Konflikts in Europa, doch es schob ihn nur ein knappes Jahr hinaus. Durch die Danzig- und Korridorkrise entbrannte der unnötige Krieg nun doch, General Becks Warnungen und Prophezeiung des Sommers 1938 erfüllten sich zwar mit Verzögerung, aber mit der unerbittlichen Logik der Kräfteverhältnisse zwischen der „antifaschistischen“ Weltallianz und ihrem Gegenbündnis.

Der Kampf des deutschen Widerstandes gegen den Krieg hielt auch nach    dem Kriegsbeginn am September 1939 und trotz Hitlers Sieg in Polen an. Seit dem Herbst und Winter 1939/40 gab es Versuche, seine Ausweitung zu verhindern oder ihn, wenn möglich, doch noch zu beenden. Nach wie vor gab es in Berlin die Gruppen der Opposition, die sich um Generale wie Erwin von Witzleben und andere sammelten, im Amt Abwehr der Wehrmacht um Admiral Wilhelm Canaris und Oberst Hans Oster und im Auswärtigen Amt unter Diplomaten, die Kontakte mit London aufrechtzuerhalten suchten. Sie alle, in der Mitte Ludwig Beck und Carl Goerderler, bemühten sich, zunächst den deutschen Angriff auf Frankreich zu verhindern, Versuche bei denen General Franz Halder, Becks Nachfolger als Generalstabschef, eine zentrale Rolle spielte. Ein Anfang November geplanter Putsch wurde abgesagt, nachdem Hitler selbst den Eindruck vermittelt hatte, er wisse über ihn Bescheid.

General Beck war auch in dieser Phase die von Oppositionsgruppen anerkannte Führungsfigur. Alle achteten seinen Mut, weiterhin dem Krieg Hitlers in die Zügel zu fallen und anerkannten seine Kompetenz in den Fragen der Strategie und der Militärpolitik. Schon vor dem Kriegsbeginn hatte er keinen Zweifel daran gelassen, daß schließlich auch die beiden Weltmächte, die USA und die Sowjetunion, in den europäischen Krieg eintreten und in ihm durch seine globale Ausbreitung ihre Machtinteressen zur Geltung bringen würden. 

Ludwig Becks Vorhersagen erfüllten sich Zug um Zug

Am 22. Juni 1941 wurde der Krieg dann erst eigentlich zum Weltkrieg, zu dem die beiden totalitären Ideologiemächte schon längst entschlossen waren. Im Fall der Vereinigten Staaten hatte sich deren zweite Kriegsbeteiligung nach 1917 schon seit längerem abgezeichnet, beginnend mit ihrer Hilfe für Großbritannien nach der Niederlage Frankreichs 1940. Der Dreimächtepakt vom September 1940 zwischen Deutschland, Italien und Japan trug seinen Teil zur Globalisierung des Krieges bei. Der Luftangriff der Japaner gegen die US-Pazifikflotte in Hawaii am 7. Dezember 1941 erweiterte ihn erneut, und mit Hitlers Kriegserklärung an die USA am 12. Dezember wiederholte sich die Kette der Bündnisverpflichtungen, die schon den Ersten Weltkrieg ausgelöst hatten. Mit dieser Entscheidung wurde Hitlers Selbstüberschätzung und Hybris zum Ausgangspunkt des globalen Ringens, der jene Kette in Gang setzte, die ihn und Deutschland schließlich erdrosseln mußte.

Es war die überlegene globale militärische Sachkenntnis, Übersicht und Prognosefähigkeit General Becks, die seine Autorität bei den Mitstreitern im deutschen Widerstand und seine Beru-fung zum Staatschef und „Reichsverweser“ nach einem Erfolg des Anschlags vor allem begründeten. Ab 1943 begannen auf allen Kriegsschauplätzen die militärischen Erfolge der Alliierten nicht mehr abzureißen: an der deutschen Ostfront mit der Katastrophe von Stalingrad. In Nordafrika und Italien mit der Errichtung der zweiten Front der Westalliierten und schließlich mit der Invasion in Nordfrankreich, die zur Vorstufe des Finis Germaniae wurde. Auch Hitlers anfänglich erfolgreicher U-Boot-Krieg endete im Desaster. General Becks Vorhersagen erfüllten sich Zug um Zug und widerlegten die Kalküle des „größten Feldherrn aller Zeiten“, wie der deutsche „Volksmund“ jetzt bitter zu spotten begann. Als General Ludwig Beck am späten Nachmittag des 20. Juli 1944 in die Bendlerstraße in Berlin fuhr, wußte er schon um das Scheitern des Anschlags. Sein Mut, sich dennoch – „coûte que coûte“, also um jeden Preis – an der Erhebung zu beteiligen, wird seine Wurzel in dem Bewußtsein gehabt haben, seinem Land von Anfang an die richtigen Ratschläge gegeben zu haben. 

Durch sein Leben, sein Denken und Handeln gebühren Ludwig Beck auch heute, Jahrzehnte danach, Erinnerung, Respekt und Ehrung der Deutschen wie nur wenigen im 20. Jahrhundert. Der 20. Juli 1944 ist trotz seines Scheiterns zu einem Datum geworden, das nach der Katastrophe zum Fortgang der deutschen Geschichte aufrief und ihn ermöglichte. Es hängt von der Klugheit, Einsicht und dem Selbstbehauptungswillen jeder nachfolgenden deutschen Generation ab, ob dieses Erbe wirksam wird oder vertan wird.

Foto: Gedenkstein am ehemaligen Begräbnisort der Opfer vom 20. Juli 1944 aus dem Bendlerblock auf dem St. Matthäi-Friedhof in Berlin-Schöneberg: Ludwig Beck wußte um das Scheitern des Anschlags. Dennoch beteiligte er sich – „coûte que coûte“ – an der Erhebung