© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/17 / 21. Juli 2017

Die Sünden der Vergangenheit
Studie der Bertelsmann-Stiftung: Die Schülerzahlen in Deutschland werden wider Erwarten steigen
Christian Schreiber

Im deutschen Bildungssystem herrschte jahrelang die Ansicht, daß der demographische Wandel auch seine guten Seiten hätte. Mit sinkenden Schülerzahlen und gleichen finanziellen Mitteln könne die Ausbildung der Schüler in der Bundesrepublik optimiert werden. Doch eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung macht diese Hoffnung zunichte. Denn die Schülerzahlen in Deutschland werden in den nächsten Jahren viel stärker steigen als bislang angenommen. Die Erhebung geht von einem Anstieg von knapp acht Millionen im Jahr 2015 auf fast 8,3 Millionen im Jahr 2025 aus. Das sind rund 1,1 Millionen mehr als nach den Prognosen der Kultusminister der Länder, die bisher ein Absinken auf gut 7,2 Millionen Schüler bis 2025 vorhergesagt hatten. Angesichts möglicher Folgen für das Bildungssystem forderte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack umgehend eine Bund-Länder-Offensive für die Schulen in Deutschland. „Unser Schulsystem ist drastisch unterfinanziert“, sagte sie dpa. „Vielerorts bröckelt der Putz von den Wänden, es fehlen Lehrkräfte, Sozialarbeiter und Schulpsychologen.“

Es gibt nicht                        genügend Räume

 Fest steht, daß es neben dem Bedarf an Lehrern und Erziehern auch zusätzlichen Raumbedarf gibt. Hier könnten sich Sünden der Vergangenheit bitter rächen. Bundesweit wurden in den vergangenen 20 Jahren rund 1.800 Grundschulen wegen Schülermangels geschlossen. Im Jahr 2025 werden laut der Studie fast 2.400 Grundschulen mehr nötig sein als heute. Bereits jetzt gelten viele bestehende Schulen als marode; der bundesweite Investitionsstau wird von der Förderbank KfW auf 34 Milliarden Euro taxiert. 

Studienautor Dirk Zorn warnte allerdings davor, voreilige Schuldige auszumachen. Die Prognosen hätten auf Zahlen basiert, die nicht haltbar gewesen und teilweise fünf Jahre alt gewesen seien. „Seitdem sind aber zwei Dinge passiert: Fünfmal in Folge ist die Zahl der Geburten gestiegen, und wir hatten deutlich höhere Zuwanderungszahlen als erwartet.“ Mit diesem Schüler-Boom habe kaum jemand gerechnet, erklärt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. „Jetzt besteht enormer Handlungsdruck. Viele Bundesländer müssen komplett umdenken“, sagte er der Welt. Der Traum von der demographischen Rendite sei ausgeträumt. „Jetzt gilt es, in zusätzliche Lehrer und Schulen zu investieren.“ Regional sind die Unterschiede aber teilweise beträchtlich. Demnach steigen in den Stadtstaaten die Schülerzahlen über alle Schulformen bis 2030 sogar um knapp 30 Prozent, während in den östlichen Bundesländern nach einem zwischenzeitlichen Anstieg die Zahl der Grundschüler in 15 Jahren schon wieder zurückgeht. Dies wird mit der Zuwanderungswelle erklärt, die besonders in den Ballungsgebieten zu spüren ist. Ein weiterer Faktor  sei die sogenannte Landflucht. Vor allem jüngere Menschen, die später Kinder bekommen, zieht es zum Berufseinstieg in die Großstädte. 

Bundesweit sind die Schulformen den Zahlen zufolge unterschiedlich stark betroffen. Grundschulen würden den Anstieg als erste spüren. „Sofern die Klassen nicht größer werden sollten, fehlen im Jahr 2025 gegenüber heute mehr als 24.000 Vollzeit-Lehrkräfte.“ Die Autoren warnen aber auch vor einer übertriebenen Panikmache. Auch die eigenen Zahlen seien mit einer gewissen Unsicherheit versehen.  „Wie unsicher derartige Annahmen sind, zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre, in denen sowohl die Wanderungsbilanz als auch die Geburtenzahlen deutlich unterschätzt wurden“, erklärte Zorn. Es sei auch zweifelhaft, ob es bei den steigenden Geburtenzahlen und einer anhaltend hohen Zuwanderung bleibe.

Die Kultusministerkonferenz sieht die Zahlen der Studie unterdessen kritisch und trat dem Eindruck entgegen, man habe sich verkalkuliert. „Wir wissen seit mindestens den letzten zwei Jahren durch die demographische Entwicklung, daß wir zum Teil in einigen Bundesländern steigende Schülerzahlen haben. Und nicht zuletzt durch die großen Flüchtlingsbewegungen wissen wir, daß in den Schulen mit steigenden Schülerzahlen zu rechnen ist“, erklärte ihr Generalsekretär Udo Michallik.