© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/17 / 14. Juli 2017

Erstarkende Parallelgesellschaften
Der Weg in den Bürgerkrieg
Ludwig Witzani

In dem Oscar-prämierten Film „Die Brücke am Kwai“ gibt es gleich am Anfang eine bezeichnende Szene: Ein von den Japanern gefangengenommenes Regiment wird mitsamt seinen Offizieren in ein Kriegsgefangenenlager geführt. Dort setzt der oberste Offizier des britischen Regimentes (dargestellt durch den britischen Schauspieler Alec Guinness) in einer kurzen Debatte mit dem japanischen Kommandeur durch, daß die interne Befehlsstruktur des Regiments erhalten bleibt und daß die britischen Offiziere auch im Kriegsgefangenenlager für das ganze Regiment sprechen.

Dies von seiten des japanischen Offiziers in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht zuzubilligen, war löblich, aber dumm, denn auf diese Weise behielt das Regiment einen Rest von Aktionsfähigkeit, der am Ende die Brücke am Kwai zum Opfer fiel.

Ein halbes Jahrhundert vor besagtem Film hatte Max Weber diesen Sachverhalt in seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ als den Gegensatz von Heterokephalie und Autokephalie beschrieben. Heterokephalie liegt vor, wenn innerhalb eines sozialen Systems der Leiter des sozialen Subsystems (Weber spricht von „Verband“) von außen ernannt und somit kontrolliert wird. Autokephalie liegt vor, wenn der Leiter des Subsystems von seinen Kollegen selbst bestimmt wird (Max Weber: „Wirtschaft und Gesellschaft“, Kap. I, § 12). So wird zum Beispiel ein Schulleiter nicht von den Schülern gewählt, sondern (unter Beachtung bestimmter Mitwirkungsrechte) von der Schulbehörde ernannt. Der Schülersprecher dagegen wird nicht vom Schulleiter (heterokephal) bestimmt, sondern (autokephal) von seinen Mitschülern gewählt.

Was sich in dieser ersten Erklärung noch reichlich fachchinesisch anhört, besitzt innerhalb der Verfassungsgeschichte einen erstaunlichen Erkenntniswert. Im spätrömischen Reich, als die Wehrkraft der römischen Armee nachließ, wurden in immer größerem Umfang germanische Söldner als Kampfeinheiten zur Grenzsicherung eingesetzt. Der entscheidende Schritt zur Aushöhlung und schließlich zum Untergang der weströmischen Staatlichkeit vollzog sich, als diese Truppenverbände „autokephal“ wurden, das heißt, dazu übergingen, aus ihren eigenen Reihen den Oberbefehlshaber zu bestimmen.

So zerriß der fränkische Heermeister Arbogast im Jahre 392 die Absetzungsurkunde, die ihm Kaiser Valentinian II. überreichte, mit den Worten, seine Macht habe er nicht von ihm, also kön-ne er sie ihm auch nicht nehmen. Noch weiter ging der germanische Heerführer Odoaker, der als autokephaler Kommandeur der germanischen Truppen im Jahre 476 den letzten weströmischen Kaiser Romulus Augustulus einfach absetze und sich selbst zum rex (König ) erklärte.

Auch das Mittelalter war in politischer Hinsicht durch den Konflikt von Hetero- und Autokephalie geprägt. Beispielsweise war die fränkische Epoche dadurch gekennzeichnet, daß im Rahmen des Eigenkirchensystems der Grundherr den Pfarrer und der König die Bischöfe auswählen und, wenn nötig, auch wieder absetzen konnte, wobei sie sich nicht sonderlich viel um die geistlichen Qualitäten ihres Kandidaten scherten. Ein ganz wesentliches Motiv der cluniazensischen Kirchenreform im 11. Jahrhundert war die Befreiung der Kirche von dieser (heterokephalen) Ernennungsmacht durch Kaiser, Könige und Grundadel.

In dem Augenblick, in dem radikale autokephale Verbände das staatliche Gewaltmonopol ablehnen, fällt das Gemeinwesen wenigstens partiell wieder in den Naturzustand zurück. Möglicherweise ist das der Zustand, dem die Bundesrepublik entgegentreibt.

Ein revolutionärer und in seiner Bedeutung zunächst kaum bemerkter Schritt in diese Richtung war das Papstwahldekret von 1059, in dem ein Kreis von hohen Geistlichen (Kardinälen) innerhalb der Kirche definiert wurde, der fortan anstelle des Kaisers das Recht der Papstwahl besitzen sollte. Plötzlich sah sich Kaiser Heinrich IV. mit einer erneuerten Kirche konfrontiert, die sich jede Einmischung in die Besetzung ihrer Ämter verbat. Der Investiturstreit brach aus, ein Scheidepunkt der mittelalterli-chen Geschichte und der Beginn vom Ende der universalen Kaisermacht.

Die Entstehung des modernen Staates kann als eine schrittweise Abschaffung der Autokephalie untergeordneter Verbände durch eine Zentralgewalt beschrieben werden. Das moderne Beamtentum, das heißt die Entstehung eines nur dem Herrscher verantwortlichen, von ihm eingesetzten, besoldeten und weisungsgebundenen Verwaltungsstabes, repräsentiert die bis zum Extrem getriebene zentralstaatlich organisierte Heterokephalie. Die Intendanten, die Ludwig XIV. in der Frühphase seiner Herrschaft über Land schickte, eliminierten soweit wie möglich lokale Autokephalien oder ließen sie nur bestehen, wenn sie hinfort ihre Bestätigung durch den König akzeptierten. Ihnen folgten die anderen absolutistischen Herrscher der Epoche. Wo dieser Prozeß stockte, wie etwa in Polen, verschwanden ganze Staaten von der Landkarte Europas.

Überblickt man den hier nur in sehr allgemeinen Zügen skizzierten Geschichtsverlauf vor dem Hintergrund des Gegeneinanders von Heterokephalie und Autokephalie, fällt auf, daß die Große Revolution von 1789 und die mit ihr einhergehenden politischen Umwälzungen diesen Antagonismus noch ein-mal verschärften. Einerseits wurde durch die Revolution, wie schon Tocqueville bemerkte, die staatliche Zentralisierung intensiviert, andererseits gehört es zum Selbstverständnis der neuen Staatlich-keit, den Bürgern mehr Selbstbestimmung zuzubilligen. Autokephale Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände oder andere partikulare Interessenvertretungen entstanden und mußten in das staatliche System eingegliedert werden, ohne daß die prekäre Balance von Partizipation und Integration mißlang.

Die Klammer, die seitdem Auto­kephalie und Heterokephalie verbindet und das Gemeinwesen zusammenhält, ist das unbestrittene Recht des Staates, diesen autokephalen Verbänden rechtlich bindend die Strukturprinzipien vorzugeben, an die sie sich auch intern zu halten haben: demokratische Entscheidungsprozeduren, Transparenz, Verantwortlichkeit und ähnliches. Der friedlich ausgetragene Kampf autokephal organisierter politischer Einheiten innerhalb eines staatlicherseits definierten Spielfeldes ist wenigstens in der Theorie der Idealzustand einer lebendigen Demokratie.

Praktisch aber bricht diese fragile Balance in dem Augenblick auseinander, in dem autokephal organisierte politische Willensgemeinschaften beginnen, sich zu radikalisieren. Diese radikalen Autokephalien lehnen dann nicht nur den staatlichen Gestaltungsanspruch für ihre eigene Binnenstruktur ab, sondern beanspruchen quasistaatliche Kompetenzen wie eigene Gerichtsbarkeit oder – und das ist das Entscheidende – den selbstlegitimierten Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele. In diesem Augenblick, in dem radikale autokephale Verbände das staatliche Gewaltmonopol und seine Rechtsetzungskompetenz ablehnen, fällt das Gemeinwesen wenigstens partiell wieder in den Naturzustand zurück. Möglicherweise ist das der Zustand, dem die Bundesrepublik entgegentreibt.

Einige aktuelle Beispiele aus verschiedenen Bereichen mögen diese Tendenz verdeutlichen: In einem großen Teil real existierender muslimischer Parallelgesellschaften vollzieht sich die Rechtsfindung und Streitschlichtung nicht mehr nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches, sondern der Scharia. Sogenannte „Friedensrichter“ schlichten Konflikte nach Normen, die zum großen Teil den Rechtssätzen der Bundesrepublik nicht entsprechen. Aber es gibt auch noch augenfälligere Erscheinungen. „Hier hast du nichts zu suchen. Das ist meine Straße“, schrie ein Türke aus Düren, als eine Polizeistreife in einem vorwiegend von Migranten bewohnten Viertel einem Falschparker einen Strafzettel schreiben wollte. Ein gewaltiger Tumult war die Folge, als der Türke zusammen mit seinen Söhnen mit unglaublicher Gewalt auf die Polizisten einprügelte.

Über 14.000 Übergriffe auf Polizisten allein im Jahre 2016 vorwiegend von Personen mit Migrationshintergrund dokumentieren nach Meinung politischer Kommentatoren die Etablierung „rechtsfreier“ Räume – was natürlich falsch ist, denn diese Räume sind ja keineswegs „rechtsfrei“, sondern werden nur von einem anderen, nichtdeutschen Rechtsverständnis dominiert.

Bei der autokephalen Linksextremenszene kann man von einer Vielzahl kleiner „Parallelstaaten“ sprechen, die die Behörden allenfalls als Geldgeber akzeptieren, aber jegliche Verpflichtung zugunsten gesamtstaatlicher Werte konsequent ablehnen.

Noch aktueller und bedrohlicher sind die autokephalen Freiräume, die sich der Linksextremismus in Deutschland erkämpft hat. Schon seit Jahrzehnten kontrolliert eine gut vernetzte „autonome“ Szene ganze Straßenzüge und strategische Institutionen wie Jugendzentren – und das nicht subversiv und verborgen, sondern aggressiv herausfordernd. In Abgrenzung von muslimischen „Parallelgesellschaften“ könnte man hier von einer Vielzahl kleiner „Parallelstaaten“ sprechen, die die Behörden allenfalls als Geldgeber akzeptieren, aber jegliche Verpflichtungserklärung zugunsten gesamtstaatlicher Werte konsequent ablehnen. Obwohl diese Verhältnisse jedem ehrlichen Beobachter längst klar waren, haben die Vorgänge rund um den G20-Gipfel in Hamburg noch einmal verdeutlicht, wie weit diese Entwicklung bereits fortgeschritten ist. Von Anfang an verhandelten die Organisatoren der Protestveranstaltungen mit den staatlichen Behörden auf Augenhöhe. Obwohl ganz unverhüllt mit dem Einsatz von Gewalt gedroht wurde, waren linksextreme Gruppen in der Lage, gleichsam „Botschafter“ in die Gesprächsrunden der öffentlich-rechtlichen Sender zu entsenden, wo sie vor einem Millionenpublikum zu Wort kamen.

Daß die G20 in Hamburg in der Nähe der „Roten Flora“ tagte, wurde als „Provokation“ empfunden, als wäre hier ein Staat dem anderen unvertretbar nahe gekommen. Ihre Anwälte setzten vor Gericht die Etablierung eines „Übernachtungscamps“ durch, aus dem heraus wie aus einem geschützten Rückzugsraum Gewaltaktionen gegen die Polizei unternommen wurden. Für inhaftierte linksextreme Gewalttäter wurde von den Anwälten eine Art Sonderrecht gefordert, als handele es sich um Angehörige eines anderen Staates mit quasidiplomatischem Status.

Wie extrem erodiert sich das staatliche Gewaltmonopol angesichts dieser Umstände inzwischen darstellt, wurde deutlich, als die örtlichen Ladenbesitzer aus Angst vor Verwüstungen den linksradikalen Kampfgruppen ihren Kotau erwiesen, indem sie „No G20“-Schilder in ihre Schaufenster hingen. Als die Polizei endlich eingriff, entwickelten sich bürgerkriegsähnliche Exzesse, die als abschreckende Bilder um die Welt gingen.

Man geht wahrscheinlich nicht irre, wenn man vermutet, daß die Bilder von Hamburg bald vergessen sein werden. Weitergehen wird das Wachstum radikaler autokephaler Aktionszentren innerhalb eines sich selbst aushöhlenden Staates, permanent verharmlost von Teilen des linken politischen Establishments und teilfinanziert von „Kampf gegen Rechts“-Programmen aus dem Bundesfamilienministerium. Diese sich selbst regulierenden Kampfgebilde gleichen den kleinen Ungeheuern in Ridley Scotts „Alien“, die sich in die Körper eines menschlichen Wirts einnisten, um eines Tages hervorzubrechen und den Wirt zu töten. Insofern politisch verantwortliche Akteure vor diesen Gefahren weiter die Augen verschließen, machen sie sich mitschuldig am bitteren Weg in den Bürgerkrieg.







Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, ist Lehrer im höheren Schuldienst und Reisejournalist. Er verfaßte Reiseberichte für große Tageszeitungen und Journale wie die FAZ, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Kölner Stadt-Anzeiger, Merian und andere und veröffentlicht Reisebücher im epubli-Verlag, Berlin (über Tibet, Indien, Süd­amerika, Osteu­ropa, Indochina). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den „Putsch der Zivilgesellschaft“ im Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“ (JF 18/16).

Foto: Erodierte Staats-gewalt und „autonome Freiräume“ am Beispiel der „Roten Flora“ in Hamburg: Radikale Parallelgesellschaften lehnen nicht nur den staatlichen Gestaltungsanspruch für ihre eigene Binnenstruktur ab, sondern beanspruchen quasistaatliche Kompetenzen wie den selbstlegitimierten Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele