© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/17 / 14. Juli 2017

Anschreien gegen die Angst
Besuch in Nizza: Ein Jahr nach dem Terrorakt scheint nur auf den ersten Blick nichts unverändert
David Berger

Am 14. Juli 2017 wird es genau ein Jahr her sein, daß der IS- Anhänger Mohamed Lahouaiej Bouhlel auf der Promenade des Anglais im südfranzösischen Nizza mit einem Lkw in eine Menschenmenge raste. Und dabei im Namen Allahs mindestens 86 Personen tötete und mehr als 400 zum Teil schwer verletzte.

Ich selbst war in den vergangenen Jahren einige Male dort. Auch kurz vor dem Attentat. Nun ging es wieder an den Ort des Geschehens. Mit der Frage im Gepäck: Was ist von jenem Nizza übriggeblieben, das ich wenige Tage vor dem tragischen 14. Juli 2016 verlassen habe?

Ab und an spuckt jemand abfällig auf den Tatort 

Auf den ersten Blick scheint alles unverändert. Am Flughafen angekommen, steigt man in das Taxi, das einen die endlos lang scheinende Bucht entlang in Richtung der Altstadt fährt. Rechts das endlos blaue Meer, ausgeleuchtet von der Sonnne, unverändert in seinem magischen Farbenspiel seit Jahrtausenden. Das Blut, das an der Promenade vergossen wurde, ist längst hinausgespült in die Weiten des Meeres.

Aber spätestens als das Taxi auf der Höhe des weltberühmten Hotels Negresco die Stelle erreicht, an der der Terror die ersten unschuldigen Menschen in den Tod riß, ändert sich die Atmosphäre. 

Auf der Promenade überall schwer bewaffnete Sicherheitskräfte, schußsichere Westen, prüfender Blick, Maschinenpistolen. Dazwischen an einer Stelle ein großes Bouquet mit weißen Lilien, niedergelegt von der Stadtverwaltung, alle paar Tage erneuert und bereichert durch die Blumen, die die Menschen seit dem 14. Juli immer wieder dort niedergelegen. 

Die Stelle, an der der Lkw gestoppt werden und Lahouaiej Bouhlel von der Polizei erschossen werden konnte, nachdem er ein letztes Mal „Allahu Akbar“ gerufen hatte, ist noch sichtbar. Der Müll, den die Bürger von Nizza dort hingeworfen haben, um ihren Abscheu zum Ausdruck zu bringen, ist entfernt. Nur ab und an kommt einer vorbei und spuckt abfällig auf die Stelle.

Am dem mit Palmen bepflanzten Grünstreifen, der die beiden Fahrbahnen der Promenade voneinander trennt, immer wieder einzelne Stellen, an denen Kerzen stehen und Fotos von Opfern angebracht wurden. Ich stehe an der Ampel, an der die Mutter umherlief, die nach ihrem Kind suchte und verzweifelt nach ihrem Sohn rief. 

Ein Schrei, den man nie vergessen wird, gerade wenn man die kurzen, amateurhaften Videoaufnahmen davon sah. Später wurde klar: Sie suchte und rief jenen Sohn, den wenige Meter von ihr entfernt der Lkw unter seinen Rädern zerquetscht hatte.

Meine hilflose Wut und Trauer werden nicht kleiner, als ich unwillkürlich an den Berliner Breitscheidplatz denken muß, die Weigerung der Politiker, dort eine Gedenkveranstaltung oder -tafel anzubringen. Hier im Dom zu Nizza wurde eine eigene Seitenkapelle umgestaltet, in der der Opfer des Islam in Frankreich gedacht wird. Die Opfer von Nizza nehmen dort – jeweils mit Bild und Kurzbiographie – den größten Raum ein. 

Immer mehr Juden verlassen die Stadt

Aber auch des Märtyrerpriesters aus der Normandie, Pater Jacques Hamel, den zwei fanatische Muslime wenige Monate nach dem Lkw-Massaker von Nizza am Altar mordeten, wird in jener Kapelle gedacht. Davor stehen zu jeder Stunde Menschen, zünden Kerzen an, ein junger Mann neben mir beginnt zu weinen, sein Vater nimmt ihn in den Arm und tröstet ihn.

Noch etwas fällt auf einmal auf: Nicht erst seit dem Lkw-Massaker sind Homosexuelle und Juden, die ich in den ersten Jahren meiner Nizza-Aufenthalte noch sichtbar im Stadtbild wahrnahm, nun fast ganz verschwunden. Nizza gilt nach Paris als das mondäne französische Reiseziel gutbetuchter homosexueller Männer aus aller Welt. Elton John hat hier eine Luxusvilla. Außerdem gibt es in Nizza eine lebendige jüdische Gemeinde mit cirka 25.000 Juden. Oder besser gab es. Schon seit einigen Jahren verschwinden die Juden aus Frankreich, wagen einen Neuanfang in Israel. In jüngster Zeit mehr als 6.000 jährlich. Es ist vor allem auch die Angst vor den Terroranschlägen und das durch die rasch fortschreitende Islamisierung Frankreichs veränderte Klima, das sie dazu bringt, jene Orte in Frankreich, in denen sie seit vielen Generationen lebten, zu verlassen.

Später dann bei guten Freunden. „Wie hat sich Nizza verändert?“ frage ich. Und erhalte die Antwort, die wir auch aus jedem anderen beliebigen europäischen Land von den Medien vorgegeben bekommen: „Wir machen einfach so weiter wie immer. Sonst hätten die Terroristen ja gewonnen!“ sagen sie mir.

Meine kritischen Nachfragen nach der dauernden Präsenz schwer bewaffneter Sicherheitskräfte in jedem Winkel der Stadt, mein Lamento, daß ich die Bilder der Überwachungskameras und privaten Handyaufnahmen vom 14. Juli 2016 nicht mehr loswerde, passen nicht gut in die Stimmung des Abends. Themenwechsel. 

In der Nacht begleitet mich einer der Freunde nach Hause. Wir laufen durch eine der engen, in ein warmes Licht getauchten Gassen der Altstadt, menschenleer. Wir reden nichts. Erst beim Abschied sagt er zu mir: „Unsere Zuversicht ist nur ein zivilisiertes Anschreien gegen die Angst, eine Strategie, an diesem Ort weiterleben zu können, der unsere Heimat ist, auf die wir immer stolz waren.“